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Kapitel XIX: Das Telegramm
The Fuzztones (only UK-show), Pussycat And The Dirty Johnsons, The Go Go Cult at Boston Arms, London, am 22. März 2014
Dieser Artikel ist Teil des fortlaufenden Romans „Auf der Suche nach der goldenen Pommesgabel“. Infos dazu gibt es hier.
Er hatte gerade die Sojabrocken mit kochendem Wasser übergossen und mit einer Prise Salz überschüttet, als es an der Türe klingelte. Der im schlichten grau-braun gekleidete Zusteller übergab ihm das Schriftstück mit einem geheimnisvollen Lächeln und ehe er sich versah, war der ältere Herr ohne jedes Wort wieder verschwunden.
Der dünne Umschlag des Telegramms ließ sich mit dem silbernen Brieföffner nur schwerlich aufschlitzen, doch als er diesen Akt erfolgreich vollzogen hatte, stockte ihm der Atem. Ein anonymer Informant teilte ihm auf diesen altmodischen Weg mit, dass… da klingelte es erneut an der Tür.
Der im schlichten grau-braun gekleidete Zusteller entriss ihm das Telegramm und entschuldigte sich förmlich: „Entschuldigen Sie förmlich. Ich vergaß, dass es sich bei dieser Zustellung um ein ‚singendes Telegramm‘ handelt. Ich hoffe, Sie haben noch nicht ohne mich angefangen.“ Wortlos entgeistert starrte er den älteren Herrn an, dessen Bartansatz unförmige kahle Stellen aufwies, bevor dieser ihm die telegrammierten Zeilen auf relativ uncoole Weise ungelenk vorrappte: „Hey man, Du suchst die Goldene Pommesgabel? OK, dann halt jetzt kurz mal den Schnabel. Terroristen – nicht aus dem Morgenland – kamen, und einfach so die Gabel mitnahmen. Nach England trugen sie das Objekt der Begierde hinfort, jetzt guck nicht so Scheiße, Du bist doch eh im März immer dort.“
Er wusste, dass er keine Wahl hatte. Zum einen suchte er nach wie vor nach den Antworten auf all seine Fragen, die ihm nur die Goldene Pommesgabel beantworten konnte. Zum andere hatte er mit der neuen Erkenntnis die zweifellose Aufgabe die Welt zu retten. Denn mit Terroristen, so viel wusste er aus den Tagesthemen, war nicht zu spaßen.
Es war nur ein kurzer Anruf, um alles in die Wege zu leiten. Er schröpfte die Zinsen, die sein Label im ersten Quartal des laufenden Jahren abgeworfen hatte, von seinem Schweizer Konto ab, kaufte sich ein Wohnmobil, zwei Fähren – eine für die Hin- und eine für die Rückfahrt – sowie eine Hand voll Eintrittskarten für diverse Konzertveranstaltungen und kratzte sich nach getaner Arbeit ein mal kurz am Sack. Er hatte eine gewisse Vorahnung, dass die Terroristen die Goldene Pommesgabel dorthin entführt hatten, wo niemand damit rechnen würde. Nämlich genau dort, wo sie sich für gewöhnlich auch in Freiheit aufhielt, wie der Geist ihm am Anfang dieses Romans – Ihr könnt ja gerne nochmal nachlesen, wenn Ihr mir nicht glaubt – verraten hatte: Dort, wo es einen „Haufen Geschrei mit musikalischer Untermalung“ gab. Und wenn jemand irgendwen oder -was entführt – insbesondere eine Goldene Pommesgabel – so entführt er diese ja eigentlich an einen Ort, der fern von den üblichen Aufenthaltsorten dieser Gabel ist. Aber da so Terroristen ja im Regelfall scheiße gerissen sind, verstecken sie die Goldene Pommesgabel eben doch dort, wo es einen „Haufen Geschrei mit musikalischer Untermalung“ gibt. Weil da sucht ja dann keiner mehr, mit der Erkenntnis, dass die Goldene Pommesgabel entführt worden sei. Und weil er eben noch gerissener als die gerissenen Terroristen war, hat er das natürlich sofort durchschaut und sich deswegen vorab die Konzertkarten besorgt. Verstanden? Ist ja auch egal. Er wusste jedenfalls was zu tun war und nahm die Reise auf sich, obwohl er natürlich überhaupt keine Lust hatte für gut zwei Wochen nach England zu fahren, dort drei Konzerte und ein Festival zu besuchen und so zu tun, als würde er Terroristen jagen. Hach ja, schon ziemlich bekloppt alles.
Als erste Station seiner Suche hatte er mit seiner Freundin ein Konzert der Fuzztones auserkoren, die an einem Samstag in Boston Arms in London-Camden, abseits der Touristenmeile musizieren sollten. Trotz der Größe dieser Stadt war es auch hier unvermeidbar, mit dem samstäglichen Fußball konfrontiert zu werden. Als sie sich eine Stunde, bevor die Tür der angrenzenden Konzerthalle öffnen sollte, im Boston Arms Pub zu einem kleinen Umtrunk niederließen, schallten ihnen die Geschehnisse zwischen West Ham und Manchester United aus zwei Großbildleinwänden und acht weiteren großen Flachbildfernsehern entgegen. Es gab nicht die kleinste Ecke in diesem großen Pub, in der einem diese Begegnung nicht aufgezwungen wurde. Wayne Roney brachte die Gäste übrigens mit zwei irregulären Toren mit 2:0 in Führung, als sie um kurz nach 7 p.m. austranken und sich in Richtung „The Dome“, wie der angrenzende Veranstaltungsraum sich zusätzlich schimpfte, begaben.
Bisher waren sie es gewohnt, dass die Türen in England tatsächlich pünktlich wie angegeben öffneten und sich 20 Minuten später die erste Vorband für ebenso lange durch ihr Set prügeln durften. Heute war tatsächlich an der Eingangstür die Running Order zu lesen: Erste Band 8.15 p.m., zweite Band 9 p.m., Fuzztones 10 p.m. Also Zeit genug um back to the pub for one more beer zu walken und die Auswechslung von Wayne Roney nach 59 Spielminuten zu verfolgen.
In The Dome gab es den Pint Foster´s – das kleinste der zahlreichen Übel – für 3,80 Pfund (4,56 Euro) und somit 80 pence mehr, als im Pub (3,60 Euro). Der Fußboden bestand aus Holz und nicht wie häufig gewohnt aus Teppich, was für ihn sowohl Vor- als auch Nachteil bedeutete. Den Gedanken, den ganzen versifften Teppich auf einer Größe von „Fassungsvermögen roundabout 500 people“ nicht rausreißen zu müssen um die darunter möglicherweise liegende Goldene Pommesgabel zu befreien, empfand er eher als positiv. Doch rein farblich würde sich die Goldene Pommesgabel hier nur sehr schwerlich von dem hellen Holzboden absetzen. Er ahnte, dass es heute mal wieder nichts wird mit dem Ziel.
Die erste Band nervte bereits eine Stunde vor ihrem Auftritt, als sie ein blinkendes „Go Go“-Schild zwischen die Monitorboxen stellte. Als die Herren in schwarz-weiß gestreiften T-Shirts und Gangstersmasken wie angekündigt um viertel nach acht die Bühne betraten, zog sie der Veranstalter wieder runter, da es ihm doch noch zu früh war. Eine viertel Stunde später legte „The Go Go Cult“ dann doch los.
Er hatte schon weitaus grausamere Vorbands in England erlebt und dachte sich folglich „für englische Verhältnisse gar nicht mal so schlecht“. Damit mag unser Antiheld ja auch recht haben, aber in Teutschland hätte man die Musikanten vermutlich von der Bühne geprügelt, was ich als Autor aber nur bildlich für „zurück an die Theke zum Bier trinken“ verstanden haben möchte. Er hatte schon mal solch polarisierende, ambivalente Momente, was sich auch bei der Auswahl seines Labelprogramms wiederspiegelte.
Um etwas Abwechslung in sein Leben zu bringen, suchte er die Toiletten auf und stand zwei kleinen Urinalrinnen auf zwei, durch drei Stufen getrennte, Ebenen gegenüber. Bevor er seine Hose öffnete überlegte er reiflich, welche dieser beiden Rinnen seine sensiblen Ekelnerven weniger abhaben könne. Entgegen des breit getretenen Geruchs zeichnete sich die Räumlichkeit durch triste und nicht beklebte Farben aus. Zumindest bis er den Entleerungsraum wieder verließ.
Von „Pussycat And The Dirty Johnsons“ hatte er sich zuvor wenige Videoausschnitte im Internet angesehen und war von der Dame mit Katzenmaske und ihrer musikalischen Darbietung nur wenig überzeugt. Heute trat die Hauptperson dieser Kapelle ohne Maske, jedoch im ansonsten aufwendigen Katzen-Style auf und machte auf ihn nicht den Eindruck, als wenn sie bereits ein Alter erreicht hätte, in dem sie sich hier nach 10 p.m. aufhalten dürfte. Umso überraschender gestaltete sich ihre Show, die eher auf eine 30jährige „Rockstarbraut“ – welch ebenso furchtbares wie passendes Wort – anstatt auf die Miniplaybackshow schließen ließ. Insbesondere, wenn die junge Dame die Bühne zum Singen verließ und sich ins Publikum begab, fühlte er sich an einen Zoo erinnert, in dem jeder Besucher sich genötigt fühlte, das exotische Geschöpf mit seinem smarten Phone für das heimische digitale Photoalbum festhalten zu müssen. Wie gut, dass er bereits vor Jahrzehnten durch die schriftliche, öffentliche Untermalung seiner Photos eine Rechtfertigung für sein Tun ausgetüftelt hatte, um sich nicht dazu gehörend fühlen zu müssen.
Doch je länger die Darbietung andauerte und je mehr er sich von den optischen Begebenheiten der Band und des Publikums löste, umso größeren Gefallen fand er an den musikalischen Akzenten. Die Stimme der Sängerin war durchaus beeindruckend und die mit Schlagzeug-Gitarre-Gesang und zwischendurch mit Schlagzeug-Gitarre-Gesang/Gitarre musikalisch minimalistisch besetzte Kapelle wusste selbst von den Kompositionen her nicht zu enttäuschen. Er überlegte, ob das Trio nicht sogar das Zeug dazu hätte, an Stelle der Barb Wire Dolls zu treten. Von den optischen Reizen her wusste sie das gemeine Publikum schon mal ähnlich gut zu beeinflussen und musikalisch gefiel es ihm deutlich besser.
Als die Miezekatze und ihre beiden Musikanten die Bühne verließen, war es bereits kurz vor 22 Uhr, so dass The Fuzztones vermutlich mit einer viertel Stündlichen Verspätung diese betreten würden. Da sie zum Erreichen ihrer campingplätzlichen Behausung bereits um kurz vor 23 Uhr die Lokalität verlassen müssten, grämte er sich ein wenig. Doch immerhin würden noch knapp 45 Minuten bleiben und wer weiß, ob The Fuzztones überhaupt deutlich länger spielen würden.
Es war Punkt 22:15 Uhr, als der erste Protagonist vor etwa 200 Besucher*innen die Bühne betrat, sich eine Gitarre griff, zwei Mal pling-pling machte und die Bühne wieder verließ. Zehn Minuten später betrat er diese erneut, betätigte zwei Tasten des Keyboards und verschwand. Eine weitere viertel Stunde später erschien der langsam alternde Mann ein weiteres Mal, stellte ein paar kleine Wasserflaschen auf die Bühne und ging ohne Verabschiedung. Das Publikum harrte artig aus, johlte nicht, pfiff nicht, so dass um zehn vor elf The Fuzztones unter dem Jubel der Wartenden, zwischen die sich sein vehementer Mittelfinger am Rande der dritten Reihe gemischt hatte, die Bühne betraten.
Auf so eine Rockstarscheiße hatte er nun wirklich keine Lust und er registrierte es mit Wohlwollen, dass sowohl das fünf minütige Instrumentalwerk zu Beginn der musikalischen Darbietung als auch die noch erlebte folgende knappe Minute, ihn nicht aus dem Socken riss. Ohne Pommes, dafür aber mit der Gewissheit, sich diese Band nicht nochmal anzuschauen, verließen sie Hand in Hand angepisst die Lokalität und betraten die Underground-Station Tufnell Park um nach einer guten Stunde den eiskalten Bully zu betreten und begeistert einzuschlafen. Er wusste, dass er sie noch finden würde, die Goldene Pommesgabel. Fragt sich bloß in welchem Jahrhundert.
Fortsetzung folgt.
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