Kapitel 22: Fancy Dresses (1st Day,The Great British Alternative Music Festival at Butlin´s, Minehead)

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Kapitel XXII: Fancy Dresses

1st Day of The Great British Alternative Music Festival at Butlin´s, Minehead, 28. März 2014
mit Vice Squad, 999, The Rezillos, Dr. Feelgood

Dieser Artikel ist Teil des fortlaufenden Romans „Auf der Suche nach der goldenen Pommesgabel“. Infos dazu gibt es hier.

Er hatte bereits im Vorfeld die schlimmsten aller schlimmen Befürchtungen gehegt und es dauerte nicht lange, bis er die Erkenntnis erlangte, dass all seine Vorahnungen purer Irrglaube waren. Denn das, was sich den beiden hier zeigte, war deutlich schlimmer und in Worte überhaupt nicht auszudrücken.

Dabei versprach ihre Ankunft hoffnungsvolles. Zwar regnete es nahezu ununterbrochen, doch dafür begrüßte sie an der Schranke zur Einfahrt auf das riesige Butlin´s Gelände, ein mit extremen Akzent sprechender Herr mit nur noch drei schief gewachsenen Zähnen im Munde und wies ihnen den Weg zum Check In. Dass diese Person die positivste Erscheinung des ganzen Tages sein sollte, konnten sie zu dem Zeitpunkt noch nicht ahnen. Naja, wenn die beiden ehrlich mit sicher selber gewesen wären, irgendwie doch.

Nachdem sie Teile des Arsenals inspiziert hatten, öffnete sich um 16 Uhr automatisch die Türe zu ihrem Nachtquartier für die nächsten drei Nächte. Anstatt Dusche gab es eine in die Jahre gekommene, sicher schon mal benutzte, Badewanne. Natürlich wie gewohnt ohne Mischbatterie und ohne Duschschlauch. Sie rätselten geraume Zeit, wie sich die Engländer bei solchen Vorrichtungen die Haare wuschen, doch angesichts des Publikums war ihnen auch schnell klar, dass diese Frage nur einen Bruchteil der Anwesenden berührte. Schräg gegenüber ihrer Behausung stand ein rauchender, etwa fünfzigjähriger, wohlbeleibter Skinhead, lediglich bekleidet mit Jeans, Boots und Three Lions-Hosenträger spärlich bekleidet. Zwar präsentierten die weiteren Besucher dieser Subkultur sich mit Oberbekleidung, dennoch repräsentierte dieser Herr einen Großteil der Gäste, die hier „das Wochenende ihres Lebens“ verbringen wollten.

Die Bettmatratzen bestanden aus durchgelegenem Drahtgeflecht. Die Wände waren dermaßen hellhörig, dass sie in den Genuss von drei unterschiedlichen Musikbeschallungen aus den drei angrenzenden Zimmern in respektabler Lautstärke, kamen. Er musste an den Lokal-Radiosender denken, den er immer auf der Arbeit hörte, bei dem die Moderator*innen gleich fünf Musiktitel gleichzeitig abspielten, wovon man drei erkennen musste. Als Belohnung winkten zwei Konzert-Eintrittskarten nach Wahl und er wusste genau, für welche Veranstaltung er sich keine mehr wünschen würde. Zugleich überkam ihn ein Schaudern, da er sich Gedanken machte, was passieren würde, wenn für das Folgejahr hier die Musikgruppen „Snuff“ und die „Abba Sensation“ angepriesen werden würden. Zwei Verlockungen, die er sich im Packet unmöglich entziehen könnte. Ihm wurde übel.

Auch wenn ihn das Thema Fußball nur noch sekundär reizte, war dieser Gedanke in diesem Umfeld häufig präsent. Da er zusätzlich das „Wi Fi-Packet“ gebucht hatte, freute er sich tatsächlich ein Stück, zur Ablenkung auf dem mitgebrachten Notebook das Spiel des FC St. Pauli im Livestream sehen zu können, bevor sie sich in das riesige Zelt zum musikalischen Teil des ersten Tages wagen würden. Doch war der Zugang zur drahtlosen grenzenlosen Welt so eingerichtet, dass man diesen nur via Handyphone im smarten Design empfangen konnte. Immerhin schaffte er es nach einer guten Stunde das „AFM-Radio“ zu empfangen, wo „Wolf“ und ein nur minder wahnsinniger St. Pauli-Anhänger ihm mit ihren irrsinnigen Reportagen für gut 90 Minuten die gegenwärtige Situation ein Stück erträglicher gestalteten.

Auf dem Weg zur Zweitbühne passierten sie unzählige Spielautomaten und Läden, die sie nicht brauchten. Im ersten Chips-Burger-Restaurant auf ihrer Strecke erblickten sie tatsächlich einen Zapfhahn und aus dem kam das spanische Estrella. Spätestens hier kippte ihr Unbehagen in resignierendes Gelächter, denn diese Biersorte hatte ihm vor wenigen Jahren auf einem Konzert in Spanien den Kater seines Lebens bereitet. Noch um 18 Uhr des Folgetages lag er mit Schüttelfrost den leeren Magen weiter entleerend in ihrem Bully und wünschte sich, niemals im Leben mehr Bier trinken zu müssen. Die Geschichte verlief anders.

Selbstverständlich gab es an den anderen Theken – wie in Großbritannien üblich – weitaus mehr Biersorten zur Auswahl und er entschied sich für das vermeintlich kleinste Übel „Stella Artois“, was ihm bereits während des Konsumierens Kopfschmerzen bereitete. Trotz zahlreicher Cider-Sorten musste seine Freundin auf Schnaps um- beziehungsweise einsteigen, denn die angebotenen Marken waren leider alle nicht vegan. So richtig tragisch war ihre Entscheidung in diesem Ambiente jedoch nicht.

Die Stände, an denen es Pommes gab, waren maßlos überfüllt. War er etwa nicht der einzige, der auf der Suche war? Er konnte kaum glauben, dass die hier Anwesenden tatsächlich nach dem Sinn des Lebens suchten. Wozu auch? Diese schienen mit ihrem Gegröle bereits unendlich glücklich zu sein. Ein großer Teil der auf dem Kopfe behaarten Anwesenden waren in gruppenspezifischen Einheitskleidungen angereist und – wie sowohl auf der Butlinschen Homepage, als auch in der ausgehändigten Broschüre zu lesen war – hatte der Veranstalter auch nichts gegen „Fancy Dresses“ einzuwenden, sofern diese keine „offensiven Worte oder Bilder“ oder weiß der heilige Geist was, enthielten. Die anwesenden Tele-Tubbies, Superhelden und sonstige Trottel hielten sich fest an diese Vereinbarung.

Er wählte für den Abend ein T-Shirt der Hamburger Musikgruppe „Contra Real“ und wettete mit sich selber, ob einer der zahlreichen Bediensteten der Meinung war, dass die Aufschrift „Antifascist Punkrock“ zu offensiv der Worte war oder ob einer derjenigen Skinheads, die sich möglicherweise „unpolitisch“ auf ihre Fahnen geschrieben hatten, Anstoß daran finden sollte. Doch um das heraus zu finden, hätte er sich seiner Jacke entledigen müssen, die zumindest die ersten Buchstaben seiner Botschaft verdeckte. Ob das dem ihm entgegen kommenden, nicht unbedingt schmächtig erscheinenden und nicht mehr ganz so jungen Mann, mit riesigem Waffen SS-Totenkopf auf seinem Shirt zu anstößig erschien, konnte er so nicht rausbekommen.

Selbstverständlich war er nicht von Faschisten umgeben, doch aus alten England-Besuchen war er sich durchaus bewusst, dass mit dem Thema Patriotismus auf diversen Konzertveranstaltungen weitaus lockerer umgegangen wurde, als er es – dem Himmel sein Dank – gewohnt war. Wenn dieser unter bestimmten Gruppen nicht sogar zum schlechten „guten Ton“ gehörte und so kamen ihnen optische Bekundungen zu den heimatländischen Wurzeln immer wieder mal unter die gereizten Augen, während es bei eindeutig faschistischen Ausfällen zum Glück bei diesem Einzelfall bleiben sollte. Doch all das bisher gesehene reichte natürlich, um sich schnell einig zu sein, dass das hier das mit Abstand furchtbarste Publikum im schlimmsten Ambiente war, das sie jemals erleben mussten. Gegröle um die Wette, Junggesellenabschiede, blinkende Aufsteckkiros, einheitliche T-Shirts mit Namen drauf und so weiter und so fort. Und das schlimme daran war, dass die Damen und Herren ihre Uniformierungen ganz offensichtlich, bei aller ausgestrahlter Fröhlichkeit, mit Stolz und Überzeugung trugen und nicht etwa, um sich damit selber zu verarschen und bewusst zum Narren zu machen.

Um 20:30 Uhr begannen die musikalischen Darbietungen auf zwei Bühnen parallel. Obwohl nach jeder Band eine halbstündige Pause vorgesehen war, vermied der Veranstalter es tatsächlich, die Bands zeitlich versetzt auftreten zu lassen, so dass die Besucher*innen nach Beendigung einer Kapelle noch zur anderen Bühne hätten wandern, um dort noch einem guten Teil der Darbietung beiwohnen zu können. Sie entschieden sich als Opener für die Band „Vice Squad“, die sie schon einmal in London gesehen hatten und die ihnen damals übel aufstieß. Für einen Videodreh hatte die extravagante Sängerin damals einen Ventilator zwischen die Monitorboxen stellen lassen, damit ihre Haare für das Audiovisuelle Werk stylisch im Winde wehten. Der ganze Auftritt war dermaßen aufgesetzt, dass es schon wieder lustig war, da dieser in einem Club im gekachelten Keller stattfand, der eigentlich sonst nur als Toiletten-Vorraum fungierte. Doch heute wussten Vice Squad tatsächlich zu überzeugen und machten reichliche Punkte gut. Der Auftritt kam äußerst sympathisch rüber und der Aushilfsschlagzeuger hatte sich über Nacht das Liedgut „drauf gepackt“ – wie Musizierende zu sagen pflegten – und wurde während der Songs von den anderen Musikanten immer wieder per Händezeig angewiesen, wie er zu trommeln hatte. Der Raum war mit geschätzten 1.000 Menschen oder mehr gefüllt und trotz der guten musikalischen Darbietung meilenweit von ihrer Welt entfernt.

Die folgenden 999 überraschten die beiden ebenfalls, da diese im Vergleich zu Darbietungen in teutschen Landen, unglaublich beweglich waren. Ein großer Teil des Auftritts wurde mit Publikumsanimation verbunden und wahrscheinlich war genau das der Grund, warum die Herren auf der Bühne so wirbelten. Die „Punkrockregeln“ – welch lustig Wort – waren hier andere. Denn für das, was an dieser Stelle hervorragend funktionierte, hätte man in Teutschland im gnädigsten Fall nur ein Kopfschütteln über gehabt. Und er fand, dass das auch gut so war.

Nach erneuter halbstündiger Pause standen The Rezillos auf der Bühne, die schon einmal beim Ruhrpott Rodeo vor ihrer Nase auftraten. Leider konnte die Band die beiden nicht überzeugen, so dass sie nach wenigen Songs in die Haupthalle wechselten, wo „Dr. Feelgood“ auf der Bühne stand und die beiden – verstärkt durch tanzende Wikinger mit nacktem Oberkörper und Baströckchen im Publikum – zur sofortigen Flucht bewegte.

Gegen Mitternacht betraten sie ihre, nur einen Bierschluck entfernte, Behausung, lauschten dem Krach aus den Nebenzimmern und wurden genau davon auch wieder gut sechs Stunden später wach. Die Suche nach der Goldenen Pommesgabel hatte er angesichts dieser Reizüberflutung längst vergessen. Doch für den Folgetag hatte er sich fest vorgenommen ein paar von den eher fettleibigeren Anwesenden danach zu fragen. Denn von denen gab es mehr als genug und die haben ganz sicher schon eine ganze Menge Pommes zum Bier gegessen und konnten ihm sicher nett und hilfsbereit ans Ziel seine Träume bringen.

Fortsetzung folgt.


Fotos und Bericht stehen unter einer Creative Commons Lizenz.

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