Diary 2015/37. KW: Hotel Energieball, John Allen @ JZ Heisterkamp, Herne

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37. Kalenderwoche 2015

Rock gegen Rechts (Falken Herne)

Begleitung: Hotel Energieball, John Allen

Örtlichkeit: JZ Heisterkamp, Herne

Samstag, 12. September 2015, 8:12 Uhr, Fähre Texel – Den Helder (NL)

Nach einer Woche Texel kann ich mit Fug und Recht – was auch immer das bedeuten mag – behaupten, dass seit etwa einskommafünf Tagen ein Hauch von Erholung eintritt. Genau der richtige Zeitpunkt, um den Urlaub zu beenden und wieder zur Lohnknechterei über zu gehen.

Ich könnte wirklich noch ein paar Wochen dran hängen. Und – Asche, Teer und Zimt über mein Haupt – ich könnte tatsächlich noch ne Zeit Punkrockfreiheit gebrauchen. Abstand, Ruhe, neue Kraft schöpfen. Couch, Beine hoch, blöde Filme gucken. Guter Plan – der erste Abend zu Hause steht damit schon mal.

Samstag, 12. September 2015, 17:58 Uhr, Straßenbahn 310, Witten – Bochum

Denkste. Ich bin auf dem Weg zum „Rock gegen Rechts“ der Falken Herne. Die gesamten Einnahmen kommen Flüchtlingen in Herne zu Gute. Wenn ich schon nicht in Hamburg auf der Straße sein kann, so wird es mir hier wenigstens leicht gemacht, mein Gewissen zu beruhigen. Bier trinken für Refugees. Je mehr, umso besser. Wenn ´s doch immer so leicht wäre. Dass es das nicht ist und dass der Arsch viel breiter aufgestellt werden muss, wissen wir alle. Und hoffentlich agieren wir auch alle entsprechend. Ich vorne weg. Und alle anderen auch.

Tatsächlich hinderlich ist die Tatsache, dass ich das alles gerade kaum mehr ertrage. Die Berichterstattung, Gespräche über das Thema. Gerade da, wo Menschen, die ich nicht zu meinem engen sozialen Umfeld zähle, das Gespräch mit mir suchen, weil sie das auch alles „so fürchterlich finden“, geht bei mir ne Klappe zu. Ich ertrage diese Gespräche nicht. In mir brodelt so viel Wut und gleichzeitig sowas wie Traurigkeit, dass ich bei jeder Radioreportage umschalte, ganz egal wie sich dort positioniert wird. Mich wühlt das dermaßen auf, dass mir die Rübe zu platzen droht. Wenn mir dann auch noch jemand der Kategorie „aber…“ gegenüber steht, kann ich für nichts mehr garantieren und muss umgehend den Raum verlassen. Das kommt dank meines sozialen Umfeldes äußerst selten vor, aber wenn es dann doch mal so ist, schaffe ich es nicht mehr argumentativ gegen zu halten, weil die Argumente im Regelfall eh nur am Dummheitsschirm des Gegenübers abprallen würden und die Aggressivität deutlich größer wird.

Was bleibt? Was bleibt ist die Erkenntnis, dass alles, was Flüchtlingen irgendwie helfen kann, zwar nur ein kleines Steinchen ist, all diese zusammen aber gerade tatsächlich so einiges bewegen können. Ein Hoch auf diejenigen, die gerade deutlich machen, dass selbst Teile der „bürgerlichen Mitte“ in der Lage sind, für Fremde Empathie zu empfinden und Taten folgen lassen. Das sind scheiße wenige, aber in den Medien werden sie zum Glück endlich mal so dargestellt, dass es deutlich mehr sind, als die Vollidioten in Braun, am Stammtisch und in den „…aber…“-Kommentaren. Was dabei Heuchelei, Gewissensberuhigung oder sonstiges ist, ist mir derzeit scheißegal. Genauso wie Deutschland und sein Ansehen mir in dem Zusammenhang scheißegal sind. Es geht einzig und alleine um das Wohlergehen der Geflüchteten sowie um Hilfe für diese, und da werde ich nen Teufel tun, in der aktuellen Situation mit dem Zeige- oder Mittelfinger auf bürgerliche Initiativen zu zeigen, selbst wenn die nur ne Laterne hoch halten. Die 90er sind längst doppelt und vielfach zurück gekehrt. Und bei aller Abwehrreaktion, die ich gerade hier und da nicht verhindern kann, bleibt eine ganze Menge Energie, um den Arsch selber noch hoch zu kriegen. Wenn auch immer das Gefühl mit schleicht, dass es so noch deutlich zu wenig ist.

Hilfe – und sei es nur materialistischer Art – wird in jeder Stadt gebraucht. Die Stadt, in der ich seit ein paar Jahren meinen Erstwohnsitz aufgeschlagen habe – gehört mit zu denen, die mich gerade positiv überrascht. Zwar wurde auch versucht, eine Unterkunft für Flüchtlinge abzufackeln, doch mehr als eher geringer Sachschaden (verglichen mit vielen anderen aktuellen Anschlägen), ist zum Glück nicht entstanden. Parallel dazu ist nach nur wenigen Tagen der Aufruf zu Sachspenden gestoppt worden, weil die Bürgerinnen und Bürger der Stadt so viel vorbei gebracht haben, dass es schon viel mehr als das ist, was überhaupt gebraucht wird. Das sind Dinge, mit denen ich nie gerechnet hätte. Nach all den Fackelzügen, die durch das Land zogen, hätte ich nicht gedacht, dass der „Aufstand der Anständigen“ (sic!) sich tatsächlich wiederholt und auch noch tatsächliche Hilfe in diesem Ausmaß folgt. Auch wenn es noch immer viel zu wenig Menschen sind und der Großteil lieber auf ihren Sesseln in den Bildschirm gaffen und „das Boot ist nun wirklich voll“ grummeln.

Auch wenn ich die Flüchtlingspolitik in Deutschland nach wie vor nicht abfeiern kann, da noch viel zu viel im argen liegt, so muss ich doch eingestehen, dass in den meisten anderen Ländern Europas, deutlich beschissener agiert wird. Aber solange die Grenzen dicht sind, Menschen bei ihren Fluchtversuchen, auch „dank“ Deutschlands, ertrinken oder ersticken, so lange werde ich meine Schnauze nicht halten. Refugees welcome! Und zwar alle und zu jeder Zeit!

Samstag, 12. September 2015, 19:10 Uhr, JZ Heisterkamp, Herne

Pünktlich zu meiner Ankunft beginnt es in Strömen zu regnen. Ich hatte heute drei oder vier Veranstaltungen – plus die ursprünglich bereits gebuchte Couchoption – zur Auswahl. Eine davon war outdoor. Und da stehe ich jetzt im Regen. Mit mir geschätzte knapp 100 weitere, die hier ausharren. Die erste Band ist bereits Geschichte und auf der Bühne steht John Allen, alleine mit Klampfe und überzeugt mit netter Musike und passender Stimme. Trotz des Regens stehen 10-20 Leute direkt vor der Bühne, der Rest bleibt unter der Überdachung neben der Bühne stehen und sitzen und ich kann jeden einzelnen verstehen. Ich investiere nochmal flott 1,50 Euro für die Flüchtlinge. Prost!

Samstag, 12. September 2015, 20:33 Uhr, JZ Heisterkamp, Herne

Inzwischen kann man zur Bühne besser schwimmen, als laufen. Die Bandmitglieder von Hotel Energieball haben zum Glück nicht nur alle ihren Freischwimmer gemacht, sondern auch ihren Knebelvertrag, den mit ihrem Label namens RILREC geschlossen haben, aufmerksam gelesen. Denn trotz des zunehmend beschissenen Wetters, agiert das Trio ausgesprochen gut gelaunt. Würden vor der Bühne anstatt 20 Menschen 2000 stehen, würde man den Unterschied kaum merken. Hut ab, geliebte Labelkombo!

Samstag, 12. September 2015, 21:55 Uhr, Straßenbahn 306, Herne – Bochum

Die Strecke Heisterkamp – Haltestelle habe ich erfolgreich durchschwommen. Trotz des Wetters war´s ein durchaus netter Abend und nach anfänglicher Ratlosigkeit über meine eigene Entscheidung, hier her gekommen zu sein, fahr ich doch noch mit einem kleinen Grinsen nach Hause. Zugegeben, tragen dazu auch gerade die jungen Männer hinter mir in der Straßenbahn bei, dessen Gespräche ungefähr so verlaufen: „blablabla… materialistisch…“ Typ 2: „Häh?“ Typ 1:“ Materialistisch! Weißte, was das Wort bedeutet?“ Typ 2: „Ja klar, ich kenn das von Domian.“ Mir selber erschließt sich der  Zusammenhang auch nicht wirklich, aber ich dachte, das sei ein gutes Schlusswort. Also: Materialistisch.

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