Ich bin hin und her gerissen. Am Freitag spielt Kiel vs. Düsseldorf. Bei einem Kieler Sieg sind wir aufgestiegen. Das ist mir eigentlich ganz recht, da mir meine Nerven jeden weiteren Tag der Unsicherheit spürbar krumm nehmen. Die Betonung liegt auf "spürbar". Und auf "krumm".
Nun ist es aber leider auch so, dass so ein Aufstieg auf dem Sofa - rotzaller vorzeitig einsetzender Beruhigung - auf dem ersten Blick doch nicht ganz so geil ist, wie ein kollektiver Emotionsausbruch während des Schlusspfiffs am Millerntor. Und das ist sogar unabhängig davon, ob Maurides in der 97. Minute mit Schlusspfiff das erlösende 1:0 erzielt oder es schon längst total beruhigend 2:0 steht. Naja, fast. Unterm Strich stehen Zeit und Ort nach diesem nervenaufreibenden Saisonverlauf - auch wenn dieser erst seit ein paar Wochen so dermaßen die Nerven aufreibt - bei mir bei weitem nicht an Prio 1. Ich bin längst soweit, dass ich nur noch ächze: "Hauptsache Aufstieg, nach Möglichkeit so schnell wie möglich, ansonsten egal wie und wo, ob ohne aktive FCSP-Beteiligung oder mit."
Und grundsätzlich ist es ja eh so: Alleine dieses historische Ereignis, dass wir vor dem tollen, großen, riesigen, viel-mehr-Mitglieder-Weltclub, stehen werden, möglicherweise sogar aufsteigen und die nicht, ist ja eh kaum zu toppen. Wie demütigend muss das sein, wenn man ständig Schwanzvergleich betreibt und seine herausragende Stellung in der Stadt in den Mittelpunkt drückt, und am Ende dann doch ein Kleinst-Gallien vor einem steht, vielleicht sogar aufsteigt? Bei diesem selbst immer wieder thematisierten Verhältnissen muss das doch noch viel, viel demütiger sein, als wenn wir ein irgendwie und irgendwo dann doch auf Augenhöhe agierender Konkurrent wären. Naja, wenn ihr das so seht, mir soll´s recht sein. Ich bin gerne Teil eines kleinenn aufmüpfigen Kollektivs und ärgere die Großen damit umso mehr. Damit ist im Grunde auch jeder HSV-Sieg gegen uns nicht mehr, als die logische Normalität. Eure Emotionsausbrüche nach einem denkbar knappen 1:0-Sieg, im Kontext mit dieser betonten Haltung, möge da verstehen wer will. Möge die rautenförmige Fanseele ein paar Tage betäubt sein. Bis dann zum Saisonende doch aus Versehen jemand auf die Tabelle guckt.
War mir nach dem ersten Absatz noch ein Stück kollektives Bewusstsein positiv anzurechnen, kommt jetzt die reine Egonummer: Das möglicherweise relevante Heimspiel vs. Osnabrück kommt dieses Mal für uns eh nur auf dem Sofa in Frage. Es ist tatsächlich so, dass wir in dieser Saison noch kein Spiel mit mehr als 300km Anreiseweg als puren "Tagesausflug" angegangen sind. Das Millerntor ist eh immer mit Freund:innenbesuchen verknüpft und auch auswärts nisten wir uns irgendwo irgendwie für mindestens eine Nacht ein. Wir werden alle nicht jünger, hüstel.
Aber wenn es nur das wäre. Ausnahmesituationen bedürfen natürlich auch Ausnahmen und Strapazen sind ok, dafür sind wir ja auch Fan. Viel bedeutender sind da die an diesem Wochenende undankbar liegenden Termine, keine Katzensitterin und X andere tatsächlich sehr relevante Gründe, die einer Fahrt zum Millerntor ausnahmsweise komplett diskussionslos im Wege stehen. Und wenn wir noch ehrlicher sind, müssen wir uns beide eingestehen, dass es aus gesundheitlichen Gründen derzeit eh besser wäre, halblang zu machen. Als würde der Gründe-Salat nicht eh schon überlaufen, gibt es auch noch Sauce dazu.
So. Punkt.
Naja... sagen wir: Komma.
Ja, ja, ja... natürlich spukt das in meinem Kopf rum: Ja, es ist geiler am Millerntor. Und ja, die Katze... die ist gerade eh nicht so aktiv und steinalt. Die geht doch eh nur noch länger als 10 Minuten raus, wenn das Wetter perfekt ist. Ok, ok, das Wetter ist perfekt. Aber die kommt sicher auch mal 16 Stunden ohne uns und ohne Ausgang klar ohne dass wir uns den Selbstvorwurf der Tierquälerei machen müssen. Also was mache ich Planungsfetischist? Ich kaufe den Cat Mate C300 inklusive Kühlelement. Der Cat Mate C300 hat 3 Futterfächer, die dank des Kühlelements auch problemlos mit Nassfutter gefüllt werden können. Denn die Katz, die darf eh kein Trockenfutter. Mittels der Zeitschaltuhr ist gewährleistet, dass sich, pünktlich zur gewohnten Fütterungszeit, das gefüllte zweite Fach zur Öffnung dreht und das morgendliche - dann hoffentlich bereits leere - Fach sicher wieder verschließt. Das wird, wenn meine Vorausberechnungen stimmen, exakt mit dem Schlusspfiff der Fall sein. So kann die Katz dann auch ein Stück mitfeiern.
Also, auf dennoch sehr wackeligen Beinen stehender Plan: Sollte Kiel gegen Düsseldorf gewinnen und wir auf dem Sofa aufsteigen, bleiben wir da auch direkt drauf sitzen. Soviel steht zumindest unwideruflich fest. Den Cat Mate C300 können wir auch noch einweihen, wenn wir im Münchener Olymipastadion verweilen. Natürlich wäre es cool, das Team dennoch am Millerntor gegen Osnabrück zu empfangen und abzufeiern. Aber da der besagte Emotionsausbruch mit Schlusspfiff dann so nicht stattfinden wird, würden wir in diesem Fall dann doch der Vernunft nachgeben.
Sollte Düsseldorf aber mindestens einen Punkt holen, geht es nach Schlusspfiff schnell ins Bett, der Wecker wird auf 5 Uhr gestellt (was angesichts des Faktes (!!!), dass ich eh nicht pennen werden könnte, eigentlich auch Latte ist) und dann geht´s mit dem Leih-Audi-A3 (ich kotze, ich will sowas großes nicht, aber das war tatsächlich der einzige Wagen, der in der Werkstatt nach dem Auffahrunfall bei unserem letzten Hamburg-Besuch, über die Versicherung des Unfallverursachers, zur Verfügung stand)... verdammt, jetzt hab ich den Faden verloren. Was ich eben sagen wollte: Ja, mensch! Sollten wir am Sonntag Morgen noch nicht aufgestiegen sein, dann fahren wir vielleicht, aber defintiv auch nur in diesem Fall, halt doch hoch und blenden alle Gründe und alle Vernunft, die dagegen spricht, einfach mal (wieder) aus. Jaja... wo die (Vereins-)Liebe hinfällt.
Donnerstag, 09.05.24, 12:44 Uhr
Ich würde lügen, wenn ich behaupten würde, dass die Woche schnell vergeht. Die dauert jetzt schon mindestens 3 Monate, gefühlt.
Karten haben wir übrigens mal wieder nur für N4 bekommen. Exakt neben dem Osnabrücker Block. Da saßen wir schon gegen Hertha und meinen Augen tat das gar nicht gut. Ich hab ne beschissene Augenkrankheit, die zur Blindheit führen kann und Qualm und Rauch ist da mit das schlimmste, was es gibt. Damals war die Nord komplett blau-weiß eingenebelt. Ja, ich mag eigentlich Pyro und bin alles andere als der Zeigefingerantipyromane. Auf der anderen Seite bin ich einer derer, die darunter massiv leiden und dem alleine deswegen natürlich auch immer mal der Spruch "die Freiheit des Einzelnen endet dort, wo sie die Freiheit anderer beeinträchtigt" durch die Hirse springt.
Machen wir uns nix vor und auch wenn das immer wieder belächelt wird: Es gibt ne ganze Menge Menschen, für die angesichts von Vorerkrankungen Pyro Gift ist. Die sich Auswärtsstehblöcken alleine deswegen schon fernhalten sollten oder vielleicht sogar müssen. Das ist nicht cool und da stellt sich natürlich die Frage nach der Solidarität. Ich bin da selber hin und hergerissen. Zum einen respektiere ich das als Teil einer Fankultur. Ja, das sieht (meistens) aus, ich mag das "eigentlich" auch voll. Aber gerade als Betroffener sehe ich das zwangsläufig auch ein Stück differenzierter, da mir dadurch schlichtweg Optionen im Stadion genommen werden oder ich meine Gesundheit massiv gefährde. Rotzdem würde ich niemals wirklich dagegensprechen. Ich stehe da komplett zwischen den Stühlen. Ich fände etwas mehr Verständnis für die Betroffenen, anstatt diese wirklich ernsthaften Probleme zu belächeln, schon ganz cool, habe aber auch nicht wirklich eine Lösung parat, außer auf Pyro zu verzichten. Doch dann wird mir wieder der andere Stuhl hingeschoben, der Pyro dann doch irgendwie cool findet. Bock darauf blind zu werden - und es ist schlichtweg so, dass mit jeder Einnebelung die Gefahr wieder ein Stück größer für mich wird - hab ich natürlich trotzdem nicht. Ja, schwierig.
Aber zurück zu N4. Wochenlang eingeschlossen habe ich mich, um im Zweitmarkt durch Dauerklicken an andere Karten zu kommen. Für den Fall der Fälle, dass Kiel das Ding nicht gewinnt. Acht F5 Tasten sind dabei drauf gegangen, drei Packungen Blasenpflaster und der Pizzalieferdienst hat sich nen Arsch abgefreut. Dazu unbezahlter Urlaub, noch weniger Schlaf als sonst und blah. Alles umsonst.
Samstag, 11.05.24, 22:23 Uhr, Schlusspfiff in Kiel
Na gut...
Sonntag, 12.05.24, 5:00 Uhr
Jetzt würde eigentlich der Wecker klingeln, wenn ich ihn nicht schon längst ausgeschaltet hätte. Wir kraulen die Katze nochmal hinterm Ohr, versperren ihr mit schlechtem Gewissen den Weg nach draußen, prüfen ein letztes Mal die Batteriekapazitäten des Cat Mate C300 und dann geht´s los. In 17-18 Stunden sind wir wieder da, Süße. Halte durch!
9:12 Uhr
Natürlich kommen wir um diese Zeit blendend durch und Jens neuer Podcast ("Über den Stadionrand") und der Millernton sorgen derweil für Kurzweiligkeit. Dann das Auto abgestellt und über den Kiez geschlendert. Die Atmosphäre in der Luft knistert. Vorfreude! Angespannte, aber doch gelöste Vorfreude. Irgendwie scheint dieses Oxymoron zu funktionieren. Das Wetter spielt mit, die Sonne zeigt sich Stück für Stück, als wolle auch sie Teil dieses ganz besonderen Tages sein. Hoffentlich. Ich sauge diese Atmosphäre sowas von auf. Noch sind die Straßen halbwegs leer, füllen sich erst nach und nach. Ich will hier jede verdammte hundertstel Sekunde genießen und das ab sofort.
Einmal kurz übers Stadiongelände. Die ersten Spieler kommen, gehen Richtung Bus um zum gemeinsamen Frühstücken zu fahren. Jackson kommt uns entgegen. Kurzes nicken, kurzes "Hi!", gegenseitiges anlächeln. Ich halte es ja mit Ewald Lienen und seinem Postboten. Für Idole ist in meinem Leben kein Platz. Ich besitze nicht ein einziges Autogramm, kein gemeinsames Foto mit Spieler:innen oder bekannteren Musiker:innen. Vergötterungen sind mir sowas von fern, aber ich schreibe die Begegnung in unseren Fanclub-Gruppenchat und alle flippen aus, mich eingeschlossen. Für Kiezbewohner:innen eine Alltagsbegegnung, für uns ein Aufhänger um es selbstironisch auf die Spitze zu treiben: Kill your idols, aber natürlich hält so ein Moment an diesem Tag die Gänsehaut stabil.
10:14 Uhr
Die erste Person, die uns nach unserer ersten Runde über den Weg läuft ist K. aus Berlin. Ich habe sie gestern erst beim Blindenfußball-Spieltag in Köln kennengelernt: "Gibt´s doch nicht!" sagen wir fast gleichzeitig, schnacken ein wenig und gehen dann im Karoviertel frühstücken.
Draußen geht ein kleiner Pulk von Menschen vorbei. Hey, das ist doch Stemmen. "Ey, Stemmen!" schrei ich noch hinterher, aber Stemmen hat längst auf Tunnelblick umgeschaltet und da gehört in dem Alter auch der Gehörgang dazu. Irgendwann verwächst das miteinander. "War er wohl doch nicht", sag ich zu Sabbi. Doch war er, wie er uns später bestätigt, aber... wie gesagt bzw. geschrieben.
10:48 Uhr
Ab zum Stadion, ich halt´s nicht mehr aus. Den Fanmarsch lassen wir Fanmarsch sein, das ist mir alles viel zu spät mit der Ankunft am Stadion. Ich bin viel zu nervös, ich muss da jetzt hin, ohne Umwege. Den Kuchen zum Nachtisch müssen wir mitnehmen, den können wir da jetzt nicht auch noch im sitzen konsumieren. Da bestehen wir beide drauf.
Am Stadion suchen vermutlich mehr Menschen Karten, als je zuvor. Wir sehen mehr Pappschilder als Bierflaschen und -becher zusammen. Teils mit "biete 150€"-Bullshit on it.
Wir begrüßen die bekannten Gesichter, lassen uns von der Maschine, die MP3 töten kann (well done!) mit Punkrock & Co. beschallen und noch immer liegt dieses unbeschreibliche Knistern in der Luft.
Bitte was? Ach das kommt von den Schallplatten? Verdammt.
13:12 Uhr
Anstatt unsere Sitzplätze neben dem Osnabrücker Block einzunehmen, stellen wir uns zu den Menschen hinter der letzten Sitzplatzreihe. Sabbis Fuß scheit heute mitzumachen. Ich würde den Arsch eh nicht still halten können und bin dafür sehr dankbar. Dort lernen wir unter anderem zwei Typen kennen, die jedes Heimspiel aus Dublin anreisen. Überhaupt haben wir hier ein sehr sympathisches Umfeld, was ja auch bei uns im Stadion längst nicht immer der Fall ist.
Die Sicht ist auch prima, mal keine doppelt gespannten Netze (horizontal und vertikal) vor den Augen und man ey, wann geht es denn endlich los? Es ist jetzt schon mindestens 20 Minuten lang 13:12 Uhr.
13:27 Uhr
Gefühlt 2 Stunden später: Geile Nord-Choreo zum 28. Geburstag von "Pröppers Vendetta". Als wären die Osnabrücker:innen eingeweiht, weht ein wenig Pyrorauch rüber und macht die Optik von hinten perfekt.
13:37 Uhr
Tooooooooooooooooor!!! Dapo!! So sehr ich für den Anpfiff dankbar war, so sehr liefen die ersten Minuten irgendwie an mir vorbei. Alles noch so verdammt irreal gerade. Heute kann´s passieren! Die Statik des Stadions inkl. der Nord wird ganz hart auf die Probe gestellt. Was geht denn hier ab? Das ist das drei-, nein, das äh... vierfache, egal, von dem, was ein Tor sonst so auslöst. Ein kollektiver Schrei, die Augen werden feucht, Umarmungen, hoch gereckte Fäuste, es fühlt sich so krass an. Und auch Jackson zwinkert zu uns rüber und lächelt noch einmal für uns. Der Fanclub-Chat ist begeistert.
Doch wir schaffen es mal wieder nicht nachzulegen. Nikola muss mal wieder ein paar mal bravourös eingreifen und auch unsere Abwehrreihe verteidigt ein paar mal richtig stark. Meine Nerven, ey.
14:22 Uhr
Halbzeit. Auf der Süd, da wo der Süd-Ost-Chapter der GAS und der Regenrinne abhängt (aber ohne das zu verantworten) gibt es ein Soli-Banner für das wundervolle Substanz Osnabrück. Scheint die anwesenden VfL-Fans nicht wesentlich zu beeindrucken. Dazu ein "Hände weg vom Fanladen!" an die Vollärsche aus St. Ellingen, die einen FCSP-Fanladen-Mitarbeiter bei einem Angriff nach der Derby schwer verletzt haben. Auch von unserer Seite an der Stelle ein herzliches GUTE BESSERUNG!
14:38 Uhr
Tooooooooooor!!! Schon wieder Dapo, krasser Scheiß! Ein erster Erleichterungsbrocken fällt. 3 Hütten würden uns jetzt nur noch vom heutigen Aufstieg abhalten. Vorausgesetzt wir netzen selber nicht mehr ein. Das schaffen die Osnabrücker nicht. Da glaube selbst ich ganz fest dran. Trotz ihrer paar Chancen in der ersten Hälfte. Dafür sind wir viel zu dominant aus der Kabine gekommen. Poahr ey... PFEIF ENDLICH AB!!
14:42 Uhr
Eric Smith wird ausgewechselt und mit Standing Ovations verabschiedet. Cool findet er die Maßnahme des Trainers dennoch nicht. Es kommt tasächlich zu einem kleinen Schubser in die eine und einen kleinen in die andere Richtung. Das muss diese oft zitierte Intensität sein. Und ich bin tatsächlich fasziniert, weil das für mich auch ein Zeichen von totaler Fokussierung (mit der dazugehörigen Anspannungen und Adrenalin) bis zur letzten Sekunde ist. Ich brauch da keinen Verweis auf hierarchischen Scheiß, die beiden respektieren sich zu 1910%. Das ist nicht cool, aber das ist auch nix dramatisches und schneller wieder vergessen, als dass manche Medien es mehr thematisieren könnten, als es Wert wäre.
14:48 Uhr
Tooooooooooor!!! DAS WAR'S!! Alte*r, DAS WAR'S!!! Cello nach Zuspiel von Dapo, jetzt schon "Held des Tages" (kleiner Insider). Jackson nickt zu uns rüber und gibt uns zu verstehen, dass auch er keine Zweifel mehr zulässt.
Auch den Greenkeeper scheint nix mehr zu halten. Ob er jetzt in einem Emotionsausbruch oder aus Versehen in just dem Moment des Torjubels die Rasensprengeranlage einschaltet, entzieht sich meiner Kenntnis. Aber das war ne witzige Nummer und reicht im Leben nicht für einen Spielabbruch. Wir wissen alle, wo der Abschaltknopf sich befindet.
15:08 Uhr
Der Stadtteil scheint zu explodieren. Gefühlt brüllt und singt inzwischen das ganze Stadion. Ich sauge gleichzeitig einfach nur auf, schaue in strahlende Gesichter und gucke ganz sicher nicht anders.
Dann aber plötzlich Torjubel im Osnabrücker Block. In einer Lautstärke, als hätten sie doch noch den Klassenerhalt mit einem Tor in der letzten Sekunde erzielt. Dabei waren sie schon letztes Wochenende abgestiegen. Gefolgt von "Auswärtssieg!"-Geschreie und Pyro. Irritierte Blicke und großes Gelächter aus unserer Ecke. Das war tatsächlich eine verdammt geile Performance. Einfach mal so, mitten im längst entschiedenen Spiel, ein Phantom-Tor zu feiern, während sich der Ball irgendwo im Mittelfeld befindet. Das kollektive OKF gehört da sicher zum Gesamtkunstwerk.
Die Nummer wiederholen die Gäste noch zwei Mal. Da der Jubel nach dem realen 1:3 Elfmetertreffer unmittelbar vor Schluss eher verhalten ist und daher abgezogen wird, sind wir dann am Ende bei einem 3:3. Reicht zum Aufstieg.
Wo wir gerade dabei sind: Die bereits abgestiegenen Osnabrücker:innen hauen nochmal alles raus und beschränken sich auf ein kurzes "scheiß St. Pauli" in der Anfangsphase. Ja, das muss natürlich raus, wegen dem zu verlierenden Rufs und so. Aber einmal raus, reichte es dann offenbar auch. Fein gemacht.
15:23 Uhr
Längst kleben Fans nahe der Seiten- und Torauslinien. Ein Stück 1963/64 weht durchs Millerntor, haha. Dann der Elfmeter. Erst pfeift Schiri Petersen irgendwas für uns. Abseits? Schwalbe? Keine Ahnung, ich starre zwar hin, meine Aufnahmefähigkeit ist aber im Keller. Ich will nur noch den Schlusspfiff. Der VAR greift ein. In der 90. Minute. Geht klar, man muss die Regeln jetzt nicht ändern. Petersen macht alles richtig: Er checkt die Szene nicht nochmal am Bildschirm (falls es um das Thema Foul oder Schwalbe ging), zeigt nach schnellem VAR-Eingriff auf den Punkt (wenn es Abseits war, wäre das ja eh das normale Vorgehen gewesen). Nikola ist dran, trotzdem Tor, egal und dann direkt der Schlusspfiff!
15:33 Uhr
Wir saugen das alles erstmal weiter von oben auf. Ich kann mich gerade eh nicht bewegen. Ich bin in sowas wie positiver Schockstarre. Dann holen wir erstmal den Lappen vom Zaun und torkeln - auch nüchtern - freudetrunken auf den Rasen. Und wie das hier halt immer so ist, laufen uns erstmal Menschen über den Weg, die wir sehr lange nicht gesehen haben. Plötzlich legt Jörkk M. (Love A) seinen Arm um meine Schulter und säuselt ein "ein guter Tag, um sich mal wieder zu sehen" in mein Ohr. Oh ja! Dann sehe ich gefühlt 5 x Wolfgang Wendland, zum Glück ist er es aber nicht. Reaktionär muss ich hier genauso wenig haben, als sonstwo.
Dafür wedelt da hinten die GAS-Fahne. Cool, dann können Stemmen und Sibbe nicht weit sein. Einmal quer durch die Meute gekämpft, fallen wir uns mit noch immer feuchten Augen in die Arme. Auch Rikk und Matthes sind da. Wir sind alle komplette geflasht, aufgewühlt und erleichtert zu gleich. Irgendwie läuft das hier ab wie ein Film, ich kann es noch immer nicht so ganz realisieren. Wäre schön, wenn mich spätestens in Wiesbaden mal jemand kneifen könnte.
Apropos Wiesbaden: Ein "SUCHE KARTE"-Schild wird noch auf dem Rasen spontan um ein "WIESBADEN" erweitert. Ein Schild für zwei Spiele. Auch Umweltbewusstsein wird beim FCSP groß geschrieben.
Apropos Wiesbaden 2: Schade, dass die in Braunschweig verloren haben. Hat aber einen großen Vorteil: (Fast) egal wie es dort ausgeht, haben wir schon wieder was zu feiern, unabhängig vom Ausgang Rostock-Paderborn und Hannover-Kiel. Wenn wir gewinnen, die definitive Meisterschaft. Wenn wir verlieren, den definitiven Rostocker Abstieg. Bei Unentschieden mal sehen, dann wäre es auf jeden Fall auch abhängig von den anderen. Am schönsten wäre natürlich wir gewinnen und Paderborn auch. Und Wehen-Wiesbaden käme in die Relegation und geht nicht direkt runter.
Ach ja? Wer ist nochmal die Nummer 1 der Stadt?
Sibbe schenkt mir in seiner Euphorie seinen wunderschönen Schal. Erst zu Hause merke ich, dass es sich um den Gürtel eines Bademantels handelt. Ich werde ihn in Ehren halten und in mein geplantes Kunstobjekt zu diesem Tag einfließen lassen.
Seit Ewigkeiten laufen mir auch mal wieder die "Kampftrinker Neu-Wulmstorf" über den Weg. Ihrem Namen machen sie auch nach 30 (?) Jahren noch immer alle Ehre.
17:04 Uhr
Irgendwie schaffen wir es noch zum Schanzendöner und dann beschließen wir schweren Herzens die Reise nach Hause anzutreten. Es liegen noch mindestens vier Autofahrstunden vor uns. Ach komm, gehen wir trotzdem noch nen kleinen Bogen am Jolly vorbei. Nur mal so gucken, vielleicht treffen wir noch jemanden zum Tschüss sagen. Was für ne grandiose Entscheidung.
Denn dort stehen LOS FASTIDIOS auf dem JollydayInn-Balkon und spielen für die unten stehende glückselige Meute ein Konzert. Klar dass wir da nicht vorbei gehen können. Leute, von denen wir uns schon vor ner Stunde verabredet haben, klopfen uns auf die Schulter und lachen sich kaputt. Na klar sind wir noch da!
22:02 Uhr
Die Rückfahrt ist mit vielen kleinen Staus gespickt. So erleben wir sowohl den Sonnenauf- als auch den -untergang endlich mal wieder auf der Autobahn. Romantischter geht nicht. Danke Team, danke Trainer, danke Stuff, danke alle! SANKT PAULI IST DIE EINZIGE MÖGLICHKEIT! Und wird es immer bleiben. Wir sehen uns in Wiesbaden, Jackson. Gute Nacht!
PS: Der Katz geht´s gut, danke der Nachfrage.
PPS: Und noch was für die Tränendrüsen, wenn diese nicht auch bei euch längst aufgegeben haben. Bei mir kommt das tatsächlich auch heute erst so richtig raus, wo ich mir all die Bilder, Videos und Berichte nochmal anschaue, nachdem gestern alles doch noch ein ganzes Stück irreal war. Danke, Millernton, danke, Jackson!
Und hier noch eine Übersicht weiterer Berichte/Fotos (geborgt vom MillernTon):
- MillernTon: Spielbericht – „Gut Ding will Weile haben“
- MillernTon: „Mein erster Aufstieg“
- MillernTon: „Nach dem Spiel“-Gespräch
- Kleiner Tod: „Erstklassig“
- Beebleblox: „Erstklassig“
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