Samstag, 14.12.24, 18:30 Uhr, 14. Spieltag, 1. Bundesliga (M), Millerntor
Liebes Tagebuch,
was bin ich froh, wieder zu Hause zu sein (bzw. auf dem Weg dorthin). Der ganze Scheiß fing schon auf dem Hinweg an: Du weißt ja, mein Hate-your-Heimat-Wohnkaff. Da fahren die eh schon rar gesähten S-Bahnen zum Umsteigebahnhof derzeit echt nur stündlich. Aber auch nicht wirklich, denn von den dreien am Samstagmorgen fallen auch noch zwei aus. Ein halbwegs passender Bus fährt auch noch nicht zum Erstbahnhof, also laufe ich die 40 Minuten halt. Ist ja trocken. Zumindest solange, bis ich loslaufe und entsprechend pitschnass an meiner ersten Station ankomme. Jetzt erstmal warten. Hier und am nächsten (ICE-)Bahnhof nochmal. Da gibt es wirklich geilere Orte.
Immerhin ist es in Hamburg trocken, wenn auch arschkkalt, so dass ich den Weg vom Hbf zum Viertel laufe. Zumindest solange trocken, bis ich die ersten 3 Minuten hinter mir habe, dann schüttet es. Macht aber nix, so ganz trocken bin ich ja eh noch nicht wieder.
Also laufe ich erstmal nur bis zu dem Laden, wo es die geilen veganen Bowls gibt. Irritierte Blicke, als ich mit St. Pauli-Stutzen und langer Unterwäsche unterm Arm erstmal aufs Klo gehe und den Rucksack irgendwo abstelle. Dann esse ich was und es hört auf zu regnen. Du ahnst es schon, liebes Tagebuch: Bis ich gerade wieder draußen bin.
In meinen Pennplatz komme ich heute erst gegen 15 Uhr. Zum Glück hat das Vereinsheim gerade aufgemacht und es läuft Konferenz aus dieser Liga, wo dieser Hamburger Zweitliga-Dino spielt. Also rein, raus aus den nassen Plörren oberhalb der Gürtellinie und erstmal mit diversen Kaffees aufgewärmt. Bis die netten Menschen hinter der Theke sagen: "Was? Willst du etwa noch einen Kaffee? Du musst doch schon ganz zittrig sein." "Nee, danke, das war tatsächlich schon mehr als genug Koffein. Ich hätte gerne eine Mate."
Was haben wir gelacht, liebes Tagebuch. Dabei war kein Wort davon gelogen.
Ich feiere das neue Clubheim-"Konzept". Und die Musik ist auch noch fantastisch. Würde ich in Hamburg wohnen, ich würde liebend gerne mitmachen. Ein Hoch auf all die Ehrenamtler*innen!
Sportliche Randnotiz: So wie diese 2.Liga derzeit läuft benötigt dieser Dino-Verein vermutlich nur noch einen Punkt pro Spiel, um aufzusteigen. Und das, wo sie derzeit auf ca. Rang 7 liegen. Auf dass sie es trotzdem wieder verkacken.
Tja, liebes Tagebuch. Danach regnet es und ich gehe zu meinem Pennplatz (wo ich mit den Worten begrüßt werde: "Du bist ja klätschnass, regnet das etwa?"), dann irgendwann zum Stadion und Stemmen kommt auch gerade an um Aufkleber zu verspenden. Ich drücke ihm wie gewohnt über beide Ohren grinsend (ich, nicht er!) auch von mir einen überdimensionalen Stapel Sticker in die Hand und sage wie immer "mach damit, was du willst" (das könnte diese Saison noch bis zum letzten Spieltag zum Running Gag werden, wenn es nicht längst schon einer ist). Kennst du diese Szene, wo Herr Lohse in Form von Loriot in seinem eigenen Film "Papa Ante Portas" Senf einkauft, liebes Tagebuch? Stell dir diese Szene mit Aufklebern und einem Onlineshop vor und du hast mein exaktes Aufkleberdruck-Kaufverhalten vor Augen.
Dann geht´s durch strömenden Regen auf die Süd. Ich bin ja tatsächlich heute alleine angereist und mein Umfeld ist wie gewohnt wild im Stadion verstreut, während ich auf der Süd sitze. Letzte Reihe, da kann ich wenigstens stehen und immerhin schreie bzw. supporte ich hier oben auch nicht soo ganz alleine. Da ich kein Fan davon bin, mit Sitzplatzkarten die eh schon prall gefüllten Stehplatzbereiche noch enger zu machen (was ich ganz persönlich den Menschen gegenüber mit Stehplatztickets auch nicht so geil finde), füge ich mich meinem Schicksal. Hättest du nicht anders gemacht, liebes Tagebuch. (Häh?)
Tolle Choreos, zahlreiche der neuen Freundschaftsschals, schon ganz viel Rauch zum Anpfiff und Loddar M. wird nicht auf den wichtigen Parkplatz gelassen (ok, die Reihenfolge war ne andere) und kommt daher außerhalb dessen direkt neben mir zu stehen. Ich hasse Idolisierungen, ich habe kein einziges Autogramm von Niemandem und halte es da mit Ewald und seinem Briefträger. Doch dieses (hier nicht zu findende) Ironiefoto muss ich dann einfach mal von Loddar und mir machen, bei aller Antipathie.
Mit 0:1 geht es in die Halbzeit, Stichwort Effektivität. Das hatten wir doch alles schon mal. Kurz nach der Halbzeit gibt´s dann große Freundschaftspyroshow im Bremen Block und bei uns. Mein Fußball-Fan-Kultur-Herz hüpft hocherfreut auf und ab. Meine Augen, schon etwas gereizt aus Habzeit eins, finden es weniger geil, da jede Art von Qualm meiner drohenden Erblindung weitere Nahrung bietet. Du weißt ja von meiner Augenkrankheit, liebes Tagebuch und meiner ständigen Angst, dass die Drohung der Ärztin irgendwann Gewissheit wird. Und klar, hätte ich auch zusehen können, irgendwo anders im Stadion unterzukommen, denn mit Pyro muss mensch auf der Süd nun mal rechnen. Aber ist halt auch nicht immer so leicht und nicht ins Stadion gehen ist auch keine Option.
Und rotzdem liebe ich diese Atmosphäre und bin da sehr ambivalent. Ich kann auch sehr gut die kritischen Stimmen in dieser Situation nachvollziehen und wenn auch Spieler ihr Unverständnis an Hand von Gesten anzusehen ist, ist das wohl auch nicht soo weit hergeholt: 0:1, das Team will den ersten Schwung nach der Halbzeitansprache mitnehmen, geht hochmotiviert raus, kommt gut ins Spiel. Da ist das natürlich kontraproduktiv, wenn das so rigoros gestoppt und das Spiel erstmal unterbrochen wird und es zurück in die Kabine geht, wo der gegnerische Trainer dann auch noch ausführliche Antworten auf unsere taktischen Umstellungen (die nach dem Rückstand und dem bisherigen Spielverlauf ja kommen mussten) kommunizieren kann. Kälte und Steuerung in der Halbzeit (Muskellockerung etc.) sind weitere Faktoren, die eine Rolle spielen und unter den Gesamtumständen wird daher vermutlich auch eine Verletzungsgefahr ein wenig erhöht. Ich kann diese Gegenargumente gut nachvollziehen, habe darüber hinaus meine eigene Augen-Geschichte, wegen der ich am besten gar kein Stadion mehr betreten sollte. Am Ende des Tages schlagen dann aber doch wieder diese zwei Herzen in meiner Brust: Fußballfankultur vs. Vernunft. Teils sogar vs. der eigenen Gesundheit.
Vielleicht wäre es ganz schön, wenn die eine oder andere Person in dieser Entlosdiskussion auch mal Gegenargumente vs. der eigenen Position respektieren würde und sich nicht immer auf manch hinkende Begründung für die Schwarz-Weiß-Position stützt. Manche Für-/Gegengereden erscheinen mir manchmal so stichhaltig, wie die Verhinderung des Tempolimits auf der Autobahn, weil die Schilder dafür nicht ausreichen. Das Pyrothema ist nicht schwarz-weiß. Was ist so schwer daran, mal zuzugeben, dass auch die anderen Argumente schlichtweg zutreffend sind, anstatt da fadenscheinige Gegenargumente zu konstruieren, mensch aber dennoch die eigene Haltung beibehält, weil einem das nun mal im Gesamtkontext ganz persönlich wichtiger ist? Ja, liebes Tagebuch. Weißt du auch nicht, ist mir schon klar.
Um es auf den Punkt zu bringen: Es ist nicht Wahrheit vs. Unwahrheit. Es liegen teilweise (!) Fakten auf dem Tisch und dann ist die Frage, wie jede einzelne Person diese einzelnen Punkte gewichtet. Das anzuerkennen wäre vielleicht ein erster Schritt, um dem dringend benötigten Zusammenrücken im Abstiegskampf ein Stück näher zu kommen.
Ausgerechnet Marvin macht das 0:2 und als der Schlusspfiff ertönt bin ich zum ersten Mal in dieser Saison ein Stück resigniert. Irgendwas fehlt da gerade in mir, was ich - vor allem auswärts - nach jedem einzelnen Spiel trotz Niederlagen gefühlt habe. Ich hatte so auf diesen wichtigen Dreier gehofft und auf dem Feld fehlte auch so einiges, so dass der Kopf heute doch mehr runterhängt, als sonst. Aber auch das geht vorbei, liebes Tagebuch.
Die Summe aus Erschöpfung, Durchnässung und gereizte Augen lassen nach dem Spiel nicht mehr viel zu. Nicht mal mehr ein Bier, nur noch ein kleines Ründchen ums Stadion und dann ist Körper- und Augenschonung angesagt: Tropfen rein, Döppen zu, runterkommen. Was nicht heißt, dass ich heute endlich mal besser schlafe. Nach zwei-drei Stunden ist die Nacht mal wieder vorbei. Hmpf.
Für mich war es nach ner langen Serie das letzte FCSP-Spiel in diesem Jahr. Wenn Stuttgart away angepfiffen wird, habe ich bereits mehrere dieser unnützen Konstrukte aka Landesgrenzen passiert und hocke vor dem Bildschirm. Ich drücke aus der Ferne die Daumen und vielleicht melde ich mich sogar mal aus anderen Gründen von unterwegs. Gute Nacht!
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