Kapitel 1

Der Einstieg für Hobbypsycholog*innen:
Seelenstriptease zur Selbsttherapie
(der übliche Vorspulpart)

Mil|lern|strain, das; zusammengesetzt aus "Millern(tor)" und "strain" <engl.> (Anstrengung; Belastung; Strapaze).

Spätestens jetzt klingelt es und die Bedeutung unseres Blognamens scheint allen Fans, die ihren Verein ebenfalls des Öfteren auswärts begleiten oder selbst für Heimspiele mehrere 100 km auf sich nehmen, nur logisch zu sein. Doch der Schein trügt und die Motivation für diese Namensgebung sieht dann doch ein wenig anders aus: Denn "strain" basiert bei mir leider nicht "nur" (sic!) auf die klassischen Strapazen, die wir in unserem Fandasein so auf uns nehmen, sondern spiegelt viel mehr meine ganz eigenen Hürden und Ambivalenzen wieder, mit denen ich mich Spieltag für Spieltag auseinandersetzen muss. Und ja, dieser Blog ist in dem Sinne auch ein Stück Selbsttherapie, koste sie auch immer wieder Seelenstriptease (übernimmt halt nicht die Krankenkasse).

Konkret: Die bei mir bereits vor über 25 Jahren vorhandene soziale Phobie, die ich in ihren Spitzen größtenteils für überwunden geglaubt hatte, tritt in Verbindung mit dieser verdammten, stark ausgeprägten Hochsensibilität (was so (un)schön nach Angeberei klingt, aber alles andere als positives Empfinden bei mir bewirkt, zumal die negativen Aspekte allesamt vorhanden sind und die positiven nur vereinzelt) gerade wieder immer öfter ans Tageslicht und ist leider häufig unabhängig von den mich umgebenden Menschen: Sowohl mir gänzlich unbekannte Personen, als auch mein nahes Umfeld können mich durch pure Anwesenheit triggern, egal wie viele es sind, egal ob sie mir zugewandt sind oder nicht. Doch selbst alleine in den eigenen vier Wänden ist zumindest eine fast immer präsente innere Unruhe und Kopfkino vorhanden. Dazu kommen weitere Phobien wie z.B. Platzangst (auch in Menschenmengen, -schlangen etc.) und diese ständige Sorge, zu spät irgendwo anzukommen. Eine verdammt uncoole Mischung, die nicht besser dadurch wird, dass ich sie "dank" all der Erfahrung nach außen hin häufig ganz gut kaschieren oder überspielen kann. Es ist vermutlich der zunehmende Einfluss dieser Hochsensibilität, der bei mir zur Zeit wieder verstärkt dafür sorgt, dass ein Verlassen der Wohnung häufig mit großer Anstrengung, Stress und anschließender Erschöpfung einher geht.

"Ich lege großen Wert darauf, mein Leben so zu gestalten, dass ich aufregende oder überwältigende Situationen vermeide."
(Aus der "Highly Sensitive Person Scale" nach Elaine Aron.)

Pustekuchen, Elaine Aron! Wenn das mal so wäre und ich damit meinen Frieden machen könnte. Denn im Grunde ist auch dieser Aspekt einer von denen, die ich sofort mit JA beantworten müsste. Aber!

Statt des gemachten inneren Friedens kommen immer wieder die Leidenschaften dazwischen gegrätscht und fordern die Ambivalenzen in mir heraus. Und eine davon heißt FC Sankt Pauli: Das "vor Ort dabei sein wollen", das Mitfiebern, das Mitzittern, sich ärgern, sich freuen, schreien, jubeln, enttäuscht sein. Das in die Tat umzusetzen geht nur mit großer Überwindung, um sich zwischen "sich dem da draußen nicht aussetzen" und "der Leidenschaft nachgeben" am Ende tatsächlich wieder für die Unvernunft zu entscheiden und den eigentlich viel zu hohen Preis (aka (Millern)strain) dafür zu zahlen.

"(...) dass Mensch bei psychischen Erkrankungen nicht mit Logik kommen muss."
(Danke A.! ;) )

Als würde dieser Fußball und das Fandasein an sich nicht schon genug Ambivalenzen in mir hervorrufen: Die Leidenschaft vs. die ganze Scheiße, die damit einhergeht: Mackergegabe, toxische Männlichkeit, teils fürchterliche (sexistische etc.) Gespräche auf den Hin- und Rückwegen, Stammtischgelaber und vieles mehr, von dem mein Herzensverein immerhin in der Vergleichsskala einen Rang ganz weit unten einnimt. Wenn auch noch reichlich Luft bis zum Boden vorhanden ist.

Dabei war schon lange klar, dass ich Anfang des Jahres definitiv kürzer trete: Zumindest Frankfurt (H), Augsburg (H) und Heidenheim (A) opfere ich für meinen Seelenfrieden. Aber lässt sich die Seele überhaupt befrieden, wenn da in der Ferne die Kurve eskaliert und das Spiel in der Ferne angepfiffen wird? Die Antwort lautet vermutlich schon "ja", denn all den (Millern)strains, die für mich im Zusammenhang mit dem Besuch des Spiels stehen, würde ich zumindest aus dem Weg gehen und mir ganz viel Strapazen, Belastungen und Erschöpfungen ersparen. 

Und dann sticht mich wenige Tage vor dem Frankfurt-Spiel doch wieder der Hafer: Zumindest den Jahresauftakt erleben, das schaff ich schon! Unfassbar, wie ich mir nach all den Erfahrungen noch immer was vormachen kann, um mich dieser Leidenschaft zu unterwerfen. DB-Sparpreise sind auch noch vorhanden und mit der schnell noch dazu gebuchten Probebahncard 25 zahle ich insgesamt das gleiche, wie ohne. Nur so vorsichtshalber, als Option für die kommenden 3 Monate. Argh!

Wir reisen sonst immer mit dem Auto an, was für mich schon mal deutlich weniger Stress bis zur Ankunft bedeutet, so dass sich meine (Millern)strains häufig erst auf dem Weg zum Stadion so richtig bemerkbar machen. Wenn ich allerdings alleine zum Spiel düse (was extrem selten vorkommt, diese Saison erst das zweite Mal), dann mache ich das im Regelfall mit dem Zug. Doch diese Fahrt ist für mich noch ein Stück mehr ungewöhnlich, da wir in Hamburg immer mindestens eine Nacht bleiben. Samstag 15:30 Uhr heißt allerdings auch eine andere Option zu haben und so denke ich mir, dass die Nacht im eigenen Bett nach dem Spiel besser ist, als an einem 2. Tag nochmal unter Menschen (Bahnhof, Zug) zu müssen. Denn am Tag "danach" ist die Erschöpfung oft so groß, dass schlichtweg gar nichts mehr geht.

Genau diesen Fehler hatte ich gegen Bremen gemacht und musste mich nach den (Millern)strains des Spieltages inkl. Zug-Anfahrt, diesen auch noch Mal am Folgetag aussetzen (Zug-Rückfahrt), (um am 3. Tag wieder der Lohnabhängigkeit fröhen zu müssen). Keine Ruhe, kein Runterkommen, nur purer (Millern)strain. Für die meisten von euch vermutlich eine Selbstverständlichkeit. Für mich hingegen deutlich zu viel der Konfrontationstherapie, verbunden mit gefühlt nahezu durchgehender Beklemmung.

Bis ich endlich wieder die Wohnungstür hinter mir schließen kann: Von innen.

Kapitel 2

Dann kommt der Spieltag:
Die real existierende Anreise

Um 5:30 Uhr geht der Wecker - das (und deutlich früher) kennen wir "alle". Nicht, dass ich überhaupt geschlafen hätte. Gefühlt schon wieder die ganze Woche nicht, was übersetzt bedeutet: vielleicht 3 Stunden pro Nacht im Durschschnitt. Aber 5:30 Uhr passt perfekt zu der prognostizierten Außentemperatur von ca. Minus 5,5 Grad (natürlich stehe ich trotzdem schon früher auf).

Für den Weg vom Heimatkaff zum IC(E)-/Umsteige-Bahnhof kalkuliere ich sowieso wieder ein, dass 3 von 4 Zügen/S-Bahnen ausfallen (zuletzt waren es tatsächlich 2 von 3), so dass ich auch dieses Mal über 90 Minuten vor Abfahrt des ICE am wenig prickelnden Umsteigebahnhof eintreffe. 90 Minuten plus Nachspielzeit aka potentieller ICE-Verspätung sozusagen. Immerhin sorgt der Spielplan dafür, dass ich keinen anderen (Nicht-FCSP-)Fußballfans begegne. Und da ich eh nicht still stehen kann, freut sich immerhin mein Schrittzähler.

Noch nicht ganz wach und trotzdem schon komplett verwirrt.
0bus fcsgEs müssen nicht immer "Fan-Gespräche" sein...
0bericht fcsg
Zeit im Zug "genutzt" aka "bloß nicht mal nix tun".

Abgesehen von all dem, was in Kapitel 1 ausführlich behandelt wurde, verläuft die Anreise bis auf einen traurigen Zwischenfall (in dessen Folge wir erst einmal für längere Zeit stehen) problemlos: Vor Bremen kommt es direkt vor uns zu einem "Wildunfall" durch einen anderen Zug.

Die Menschenmenge am Hamburger Hauptbahnhof triggert mich natürlich direkt wieder und ich entscheide mich aus guten Gründen trotz der Verspätung zum Stadion zu laufen: Luft! Atmen!

Objektiv (haha!) gesehen ist ja trotzdem noch genug Zeit.

Kapitel 3

Das Spiel & das Drumherum

Das zusätzlich Unschöne an Spieltagen wie heute ist: Es findet auch noch ein Spiel statt. Das kann aus sportlicher Sicht durchaus ganz toll sein, wie z.B. in Freiburg, in Hoffenheim, gegen Kiel oder gar in Stuttgart. Aber heute nicht, heute ist Frankfurt da und macht diese Hoffnung, dass all die (Millern)strains einen positiven Höhepunkt in ihre Mitte schließen, leider zunichte. Bremen lässt grüßen.

Ich hatte ja noch kurz gehofft, dass Omar Marmoush nur deswegen mit nach Hamburg gefahren ist, weil die Flüge nach Manchester von hier aus preiswerter sind, als von Frankfurt, aber. Der Rest ist Geschichte und wir gehen einmal mehr mit erhobenen Hauptes und ohne Punkte vom Platz. Alles weitere beim Millernton.

Kommen wir also zum Drumherum:

Auf der Süd gab es vor dem Spiel eine wundervolle Choreo für Kiste. Ich durfte tatsächlich nicht allzu lange hinschauen, da überkamen mich bereits die Tränen. Ich kann mich tatsächlich häufig nicht an Reisen/Spiele erinnern, aber das Auswärtsspiel am 6.4.24 in Karlsruhe wird mir aus diesem traurigen Anlass wohl ewig in Erinnerung bleiben. Für immer mit Dir, Kiste!

kiste fcsg

Zur Halbzeit dann eine DEFEND ROJAVA-Choreo. Ich denke, ich muss hier nicht erwähnen, wie wichtig die Solidarität mit den Kurd*innen in Westkurdistan/Nordsyrien ist. Fun Fact: Zuerst erschrak ich kurz, als ich das vermeintliche SRG auf der Gegengerade sah (siehe Foto links am Rand). Das Schwarz war allerdings ein zur Choreo passendes Grün (SRG findet mensch vermutlich sonst nur noch auf manch nostalgischem FCSP-Schal auf der Nord, zumindest musste ich heute direkt zwei davon erblicken).

defend fcsg

Zur gleichen Zeit gab es etwas Rauch aus dem Gäst*innen-Block.

bunt fcsg

Absolut übertrieben das Cop-Aufgebot mit etlichen Wasserwerfern. Absolut willkürlich und null nachvollziehbar die "das ist Polizeitaktik, da dürfen wir nicht drüber reden" (O-Ton, weiblich gelesener Cop)-Aktion nach dem Spiel und die ging so: Rechts neben der Cop-Wache an der Nord steht eine Wanne parallel zur Nord-Tribüne, daneben ca. 8 Cops, dann noch eine Wanne, dann nochmal 3 bis 5 Cops. Daneben konnte mensch dann in Richtung Feldstraße gehen. Warum diese ca. 10 Meter lange Kette, die zur Folge hatte, dass die von der Nord kommenden Menschen einen 10 Meter-Bogen gehen mussten? Genau: Polizeitaktik. Wir hatten wenigstens gut was zu lachen, danke dafür!

ww fcsg
cps fcsgPsssst! Geheime Polizeitaktik.

Ansonsten gibt es auch gar nix groß zu berichten. Der Zug hat 30 Minuten Verspätung, ist aber schön leer und die Uhr sagt 23.924 Schritte. Gute Nacht!