Samstag 01.02.25, 15:30 Uhr, 20. Spieltag, 1. Bundesliga (M), Millerntor
Kapitel 0
Disclaimer
Für alle Neuzugänge: Kennt Ihr Egozines? Ich kenne die eher aus dem Punkrock-DIY-Bereich und war sehr lange Zeit selber unermüdlicher Autor dieser kleinen kopierten A5-Heftchen. Wie sich schon erahnen lässt: Es geht dabei mehr um mich, als um alles andere. Ob Punkkonzert oder wie hier Fußballbericht aus Fansicht: Das Hauptgeschen ist bestensfalls in meinem persönlichen Erleben eingebettet und dieses erstreckt sich weit über den Spieltagnachmittag heraus.
Nicht jeder Bericht ist hier so gestrickt, aber der Folgende dafür umso mehr. Im ICE hat Mensch einfach viel zu viel Zeit und wer wäre ich denn, wenn ich einfach mal entspannt da sitze und nix tue. Jedenfalls nicht mehr ich. Leider.
Warum ich das mache? Keine Ahnung. Aber es ist praktisch, um mich später selber noch einmal an Dinge zu erinnern. Dafür würde selbstverständlich auch ein privates Tagebuch reichen, aber offenbar gibt es tatsächlich Menschen, die sowas gerne konsumieren. Wer sich angesprochen fühlt, ist herzlich eingeladen weiterzulesen. Wer nicht, liest einfach erst ab Kapitel 4 weiter. Oder gar nicht. :)
Los geht's:
Kapitel 1
Durchmarsch
Auf dem Weg zur Teutschen Meisterschaft gilt es den nächsten Krümel durch einen leichten Windstoß, fabriziert mittels einer lässigen Handbewegung, aus dem Weg zu räumen.
Boahr, nee, nochmal:
Kapitel 1
Richtig einordnen!
Ich bin da voll bei Alex. Das waren 6 megawichtige Punkte zum Rückrundenstart. Die reichen aber nicht für den Klassenerhalt. Ich rechne fest damit, dass das ein Drama bis zum letzten Spieltag wird und sollten wir das Ding tatsächlich schon vorher für uns entscheiden, dann hätte ich natürlich auch nichts dagegen einzuwenden. Ich sehe uns trotzdem nach wie vor als Außenseiter im Abgstiegskampf, auch wenn die Momentaufnahme erfreulich ist.
Kapitel 2
Dann kommt der Freitag Morgen
- Die Hinfahrt -
Ich kalkuliere wie gewohnt mit drei Zug-/Bahnausfällen zum ICE-Umsteigebahnhof und bin mir nicht sicher, ob ich das hier als solchen werten kann: Denn direkt die erste S-Bahn ist pünktlich und wartet bereits 15 Minuten vor der Abfahrt (fast) nur auf mich. Eine weitere Person ist noch drin und dann steigt die nächste ein und mir ist schnell klar, um wen es sich dabei handelt:
"HIER IST DIE BUNDESWEHR!" schallt es durch das Abteil und kurz danach sitzt mir Boris (Name geändert) im BW-Tarnanzug gegenüber und platziert eine wohl gerade vom WC entnommene Klorolle zwischen uns auf der kleinen Ablage vor dem Fenster. Als ich Boris damals - vor ca. 7 Jahren - zum ersten Mal begegnet bin, wollte er direkt wissen, ob ich auch bei der Bundeswehr sei, denn das müsse man und er sei dort bereits im Alter von 9 Jahren gewesen.
Ich bitte ihn locker zehn Mal mich in Ruhe zu lassen und sich bitte woanders hinzusetzen, doch mehr als "ich weiß" und das Angebot diverser Drogen zum Verkauf kommt da nicht. Dann nuschelt er, dass ihm egal sei, ob ich schwul sei und dass er mal eben eine rauchen ginge. Die Klorolle bleibt stehen und als ich 5 Sekunden später aufstehe, um den Platz zu wecheln, steht er schon wieder neben mir und folgt mir.
Zum Glück habe ich o.g. drei Ausfälle mit eingeplant und werte mein Verlassen der S-Bahn - noch vor der Abfahrt - ganz großzügig als einkalkulierten Bahnausfall dazu. Die Regionalbahn kommt ja auch nur 5 Minuten später und ist tatsächlich ebenfalls pünktlich.
Boris ist so der Typ Mensch, bei dem ich selber nicht weiß, ob er mir leid tun oder ob ich ihn abgrundtief verachten soll. Irgendwann auf irgendwas hängengeblieben und wenig konsequent bei der Medikamentenaufnahme zieren Naziflaggen seine Wohnung und er zieht aggro durch die Straßen und boxt auch schon mal gegen die Wände von Buswartehäuschen, wenn direkt daneben alte Menschen auf den ÖPNV warten und verängstigt zurück bleiben. Ich tendiere zu zweitgenannter Option.
Am ICE-Bahnhof habe ich trotzdem noch 90 Minuten für mich. Im Zug sitzen ein paar erwartete Mainz 05-Fans, die auf dem Weg nach Bremen sind. Ich freue mich, dass auch diese Verbindung pünktlich ist. Doch noch bevor wir losfahren kommt die Info, dass auf unserer Strecke ein Zug defekt zum Halten gekommen sei und wir einen Umweg fahren müssen. Schon jetzt bedeutet das +30 Minuten.
Pff, ich hab Zeit. Hüstel.
Ist schon geil im ICE, wenn mensch erstmal sitzt und ausreichend Platz hat. Aber bis dahin...
Immerhin komme ich noch pünktlich genug zur Menschenkettenbildung der OMAS GEGEN RECHTS. Schön zu sehen, wie viele Menschen hier sind. Und trotzdem ist mir angesichts der politischen Umstände derzeit mulmiger als je zuvor.
Kapitel 3
Dann kommt der Freitag Abend
- Konzert im Bunker aka Georg Elser Halle -
Eigentlich hatte ich mir für dieses Wochenende ja (mal wieder) vorgenommen, zu Hause die psychischen Wunden zu lecken. Das klappt so gut, wie zum Jahresauftakt gegen Frankfurt. Schieben wir es auf diese Hamburger Band, die am Freitag im Bunker zockt und auf die hassgeliebten Privilegien, die mir einen Besuch dieses Erlebnisses bescheren. So unangenehm mir dieses Gäst*innenlistenplatzprivileg seit Jahren ist und ich (im Regelfall) schon seit Ewigkeiten nicht mehr danach frage, gibt es immer noch diese kleinen Ausnahmen, wo mir gefühlt keine andere Wahl bleibt: Konzerte, wo ich schon sehr gerne hin würde, die aber abseits der persönlichen Eintrittspreisschmerzgrenze liegen. Das sind häufig Gigs alter Weggefährt*innen oder sonst nahe stehender Menschen und das ist auch absolut null Kritik an den Eintrittspreisen, sondern spiegelt lediglich das wieder, was ich persönlich bereit bin für irgendwas auszugeben. Dafür gibt es statt Eintritt am Eingang wie gewohnt einen umso größeren finanziellen Beitrag für den guten Zweck (dieses Mal geht die Kohle an NSU Watch - auch gut und wichtig!) , so dass sich das schlechte Gewissen gleich doppelt relativiert.
Auf dem Hinweg hole ich das nach, was mir am Montag nicht möglich war: Ich halte auf dem Harald-Stender-Platz, dem Südkurvenvorplatz, an der Gedenktafel für die Opfer des Nationalsozialismus inne und der Moment wiegt schwer. Ich kann mich kaum wieder lösen und gehe irgendwann mit einer gehörigen Portion Wehmut in mir langsam weiter.
Den Schalter umzulegen fällt nicht leicht. Erst die Masse von Menschen schafft es, mich zurück in die Gegenwart zu holen. Für mich ist es die erste Bunkererklimmung und die Aussicht ist tatsächlich imposant.
Ich habe als Auswärtiger die Entwicklung irgendwann nicht mehr so ganz mitbekommen, habe nur noch im Kopf, dass einmal mehr die Anwohner*innen des Viertels nicht wirklich gefragt wurden und am Ende mehr ein Prestigeobjekt für Touris entstand, als dass die Interessen der Anwohner*innen im Fokus standen. In der Summe heißt das: Selbst mit öffentlichem Park auf dem Dach (für dessen Zugang mensch unten bereits Blicke in seine Taschen ertragen muss, bevor es durch die hohen Drehkreuze geht), ist die durch den Tourismus schon lange überstrapazierte Bevölkerung einem weiteren Touri-Magneten ausgesetzt.
Bunte Kiez-Kultur findet mensch hier oben übrigens bestenfalls als Auftragsarbeit, bzw. nicht wirklich. Aufkleber: Fehlanzeige. Bei dem Versuch zu stickern fliegt mensch direkt vom Bunker und mindestens ein Securitymensch hat offenbar sogar schon mal die Cops deswegen gerufen, die nicht sonderlich amused waren für so einen Scheiß überhaupt kontaktiert worden zu sein.
Oben angekommen sehe ich noch das 1:0 für den FC St.Pauli, welches Team auch immer da unten gerade spielt. Durch wiederholten Elfmeter. Eine glückliche Führung. Soviel dazu.
Ich muss zugeben, dass das hier drinnen nicht so wirklich meine Konzertwelt ist. Zu groß, zu viele Leute und auf der Suche nach einem Getränkestand stehe ich zunächst vor drei Garderobenständen. Dann stehe ich 20 Minuten an und bekomme 0,3 Liter schlecht gezapftes Jever für 5 Euro! Ohne Pfand. Oha. Beim nächsten Mal hätte ich dann gerne, wenn ich schon auf Gäst*inneniste stehe, noch ne Kiste Hansa dazu.
Trotzdem freue ich mich sehr darauf, Marcus, Reimer und Erik gleich auf der Bühne stehen zu sehen. Erik kenne ich noch gar nicht soo lange, Marcus und Reimer allerdings schon aus ganz alten ...But Alive- und Rantanplan-Tagen. Ich hole an dieser Stelle aber besser nicht weiter aus.
Marcus kommt auf die Bühne und kündigt den Supportact an: NICHT SEATTLE aus Berlin. Dahinter verbirgt sich die Singer/Songwriterin Katharina Kollmann und ich bin sehr gespannt. Ich hatte vorher mal reingehört und die Songs erinnern mich musikalisch ein gutes Stück an die langsameren Kettcar-Songs. Als Marcus spricht, hängen die Menschen an seinen Lippen und er verkündet, dass das, was jetzt kommt, die besten Texte sind, die es derzeit in Teutschland gibt: "Ihr müsst halt einfach nur mal die Schnauze halten", um diese auch wahrzunehmen. Ich mag das voll: Ruhige Songs mit guten Melodien und Texten, die berühren.
Und dann passiert das erwartete: Katharina beginnt und gefühlt der ganze Raum labert. Ich könnte angesichts dieser Respektlosigkeit in hohem Bogen vom Bunker kotzen. OK, ich stehe relativ weit hinten, vielleicht war es vorne besser, aber hier hinten sind sämtliche Kleingrüppchen, an dem Moment, wo Marcus wieder verschwindet, mit Gelaber beschäftigt und von der Gesamtakustik klingt es nicht so, als sei es weiter vorne wesentlich besser wäre. Auf einem Kettcar Konzert hätte ich tatsächlich etwas mehr Sensibilität erwartet.
Auf dem Weg nach draußen steht plötzlich J. vor mir. Der wohnt wie ich im Ruhrgebiet, da habe ich ihn allerdings seit 5 Jahren oder so nicht mehr gesehen. Witzig, wir können es beide kaum fassen. Dann berichtet er seiner Bekannten aus Hamburg, die daneben steht, woher wir uns kennen und wie spektakulär diese Begegnung doch sei und dann sagt sie: "Ja, wir kennen uns auch. Vom Manchester Punk Festival, da haben wir kurz geschnackt. Du bist doch der Typ von RilRec." Ich kann mich null erinnern, bin aber noch perplexer als gerade, wie klein diese Welt doch ist.
Als Kettcar die ganz alten Songs spielen, bin ich schon wieder überrascht über den Effekt, den diese bei mir auslösen. Für mich ist ja ...BUT ALIVE noch immer das, was mich ursprünglich mit Kettcar verbindet und ich mochte ja sogar die "Hallo Endorphin" sehr, damals, als Marcus den Punk verraten hat (gähn!). Kettcar war immer für mich das "Neue" und jetzt gibt es diese Band tatsächlich seit 23 Jahren und auf einmal überkommt mich ein "Früher"-Gefühl, als sie ihre alten Songs spielen. Wird klar, worauf ich hinaus will? Nicht? Verdammt.
Ich bin nicht der riesen Kettcar-Fan, das gebe ich gerne zu. Aber es gibt Songs, die ich ganz großartig finde, z.B. München oder Balkon gegenüber. Und ich mag die Leute halt sehr. Insgesamt habe ich jedenfalls meine Freude, vor allem, als ich hinten im Türrahmen stehe, von draußen Luft abbekomme und von vorne den Klängen lauschen kann.
Als Ende ist, warte ich noch etwas, ob meine Mitgeher*innen mir noch übern Weg laufen, das ist aber nicht der Fall. Also einmal kurz ab zum FCSP-Clubheim, gucken ob da, wo die Aftershowparty stattfinden soll, schon was geht, obwohl ich vorher schon weiß: Egal wie das da jetzt aussieht, ich geh eh nicht mehr rein. Es ist schon fast Mitternacht und für mich ist das unfassbar spät. Ich weiß, in Hamburg geht mensch erst in 2 Stunden vor die Tür. Aber.
Gute Nacht und danke für den schönen Abend!
Kapitel 4
Dann kommt der Spieltag
So, gezz abba. Vor dem Spiel habe ich schon ein paar nette Begegnungen mit FCA Fans. Also zwei. Waren mir schon beim Spiel in Augsburg nicht unsympathisch, wo allerhand antifaschistische Bekundungen das Stadtbild in Form von FCA-Stickern verschönerten.
Heute zieht es mich in G5. Mensch nimmt halt, was mensch kriegt oder tauscht es sich so zurecht. Gleiche Reihe wie gegen Union, nur quasi spiegelverkehrt zu G2. Uiuiuiuiuiui, gutes oder schlechtes Omen? Mir nimmt das jedenfalls mal wieder etwas Phobie-Konfrontation von der Seele: Frühes anstellen und verweilen in einer ewig langen Menschenschlange nicht nötig, da der Sitzplatz keinem Reviergehabe unterliegt. Dafür im Umkehrschluss natürlich nicht die geilste Stimmung. Den "Sitzzwang" umgehe ich dank einer Lücke in der letzten Reihe.
Vor dem Spiel gibt es eine Ganzstadionchoreo zum Gedenken an die Opfer des Holocaust und zur Erinnerung an die Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz vor 80 Jahren (am 27. Januar 1945). Es ist eine gespentische Stille, als die Spieler ohne Hells Bells einlaufen. Die gemischt stehenden Spieler stehen mit einem „Kein Vergeben – kein Vergessen“-Banner im Mittelkreis. Die Nord präsentiert ein „Der Tod ist ein Meister aus Deutschland“ (aus Paul Celan's Gedicht "Todesfuge"), die Gegengerade Esther Bejarano's „Wer gegen Nazis kämpft, kann sich auf den Staat nicht verlassen“, was diese Woche im teutschen Budestag "eindrucksvoll" unterstrichen wurde. Und die Süd schließlich mit „Darüber zu sprechen ist unmöglich, darüber zu schweigen verboten“ von Schrifsteller Elieser „Elie“ Wiesel, ebenfalls Überlebender des Holocaust.
Danach schallt es "alle zusammen gegen den Faschismus" und "ganz Hamburg hasst die AfD" durch das Stadion. Und auch wenn mensch sie nicht laut hört, gibt es tatsächlich auch bei uns noch Personen, die sich zu Bemerkungen hinreißen lassen, die unerträglich sind, wie mir später berichtet wurde. Zumindest in diesem einen, mir bekannten Fall auf der GG-Steh, wurde die Person dann auch nach draußen begleitet. Danke dafür!
In der Halbzeit wird noch eine Tapentenbahn aus dem Sauerland präsentiert. Den Hintergrund dazu könnt Ihr hier nachlesen.
Der nächste Kanzler darf kein Sauerländer sein!
Das Spiel haben wir 45 Minuten lang so dermaßen im Griff und gehen mit einem verdienten 1:0 in die Pause. In Halbzeit 2 läuft weniger zusammen und dennoch halten sich die Augsburger Chancen in Grenzen, bis es in der 83. Minute dann doch noch klingelt. Leider reicht auch die 7 Minütige Nachspielzeit (von der 3,5 Minuten auf nicht abziehenden FCA-Pyro-Nebel zurückzufürehn sind) nicht aus, um das Ding nochmal in unsere Richtung zu drehen. Ein Glück, dass alle anderen Konkurrenten ohne Punkte blieben. Hoffen wir, dass Union es ihnen heute Abend noch gleichtut. Details wie gewohnt in aller Ausführlichkeit beim Millernton.
Und das war´s auch schon. Für wenige Minuten verweile ich noch mit einem Alkfreien vorm Fanladen und angesichts der nassen Kälte und der noch immer präsenten Erschöpfung vom Vorabend verabschiede ich mich zeitnah.
Gute Nacht!