Herzlich Willkommen im Millernstrain-Wissenschaftsteil: Unser Blog beschäftigt sich ja auch gerne mit sozialen/gesellschaftlichen Themen, die den FCSP vermeintlich nur streifen. Die Betonung liegt auf "vermeintlich", denn gerade unser Verein und wir als Fans (wenn auch längst nicht alle), die sich soziales Engagement und Progressivität auf die Fahnen geschrieben haben, tun gut daran, keine damit in Verbindung stehenden Themen zu ignorieren.

Die Breite an Feldern ist unendlich und es ist natürlich überhaupt nicht möglich, so tief in alle Bereiche einzutauchen. Doch um einen antidiskriminierenden und respektvollen Umgang auf möglichst vielen Ebenen zu leben, ist dieses Eintauchen auch gar nicht immer nötig. Oft reicht das bloße Verstehen von und Verständnis für Alltagssituationen, Verhalten und Erlebtem aus, um sein Sozialverhalten entsprechend der eigenen Ansprüche auszurichten und Betroffenen damit zu helfen. Ein (sich selber) Hinterfragen und Reflektieren sind hierfür wichtige Schlüssel: Sich im Umgang mit anderen Menschen mögliche Ursachen ihres Verhaltens bewusst zu werden, bevor ein Urteil und eine negative Reaktion erfolgt, die im schlimmsten Fall Betroffene zusätzlich triggert und ihre Situationen verschärft.

Dazu braucht es keine wissenschaftlichen Analysen und keine minutenlangen Gedanken. Mit einem sozialen Grundverständnis passiert das fast automatisch. Doch dieses Grundverständnis muss erlernt und dauerhaft aufgefrischt werden. Und sollte das in neuen Situationen und Feldern mal nicht spontan abgerufen werden können, ist das schlichtweg menschlich.

Ich spreche hier natürlich nicht von eindeutigem Arschlochverhalten. Au man ey, jetzt sind wir schon wieder bei Jens Lehmann. Nein, ich spreche hier von auffälligen Verhaltensweisen, die wir spontan erstmal nicht nachvollziehen können. Die uns bei Personen einmalig oder mehrmalig auffallen. Die uns abstoßen, belustigen oder sonstige negativen Reaktionen und Reflexe hervorrufen, weil sie unser persönliches Normverständnis sprengen, in unserer eigenen kleinen Welt und/oder im Rahmen unserer eigenen Verhaltensoptionen nicht existieren.

Wenn so eine Situation auftaucht, ist ein Hinterfragen vor einem Urteil ratsam. Manchmal kann die Situation es anbieten, mit der betroffenen Person vorwurfsfrei selber in den Dialog zu gehen. Wenn mensch das für nicht möglich oder übergriffig erachtet, kann dieses Hinterfragen auch alleine oder zusammen mit Dritten, möglicherweise selbst konfrontierten, stattfinden.

Und letztendlich betrifft das Thema auch wieder das FCSP-Umfeld, da es natürlich auch bei uns betroffene Menschen gibt und die Frage nach dem Umgang mit diesen.

Das war jetzt ganz viel Theorie, machen wir es also gegenwärtiger:

Ich greife mal nur einen Faktor heraus, der dabei eine Rolle spielen kann: Phobien. Gerade die sind häufig nicht offensichtlich und dass gewisse Verhaltensweisen ihre Auslöser in Ängsten haben, verwundert viele dann doch.

Auch ich leide unter diversen Angststörungen: Höhenangst und Platzangst stehen da auf der Liste des gut erträglichen, da sie meinen Alltag nur selten betreffen. Die Konfrontation mit Situationen, in denen diese Phobien zum tragen kommen, sind selten und häufig auch zu umgehen. Ich muss mich im Regelfall in keine Situationen begeben, wo diese Ängste zu Tage treten. Ausnahmen bestätigen die Regel, doch mein Alltag wird davon im Grunde nicht beeinträchtigt. Selbst Hannover away habe ich trotz Höhenangst problemlos überstanden (endlich FCSP-Bezug!). ;)

Anders sieht das schon mit Panikattacken aus. Die kommen völlig unangekündigt, nahezu situationsunabhängig. Eine Busfahrt oder eine sonstige Alltagssituation, die mir normalerweise keine Probleme bereitet, und plötzlich geht es los: Eine irrationale innere Panik steigt auf, das Bedürfnis wegzurennen, der Situation und dem Moment zu entkommen. Meistens äußerlich gar nicht wahrnehmbar, selten mit Zittern oder gar Scheißausbrüchen verbunden. Die Symptome müssen unterdrückt werden, denn wenn dem Bedürfnis, einfach laut zu schreien, Raum gegeben werden würde, wäre alles nur noch schlimmer. Die Scham steht dem im Weg: Die Reaktionen der anderen. Verständnis wäre wohl von den allerwenigsten zu erwarten. Lachen, für "verrückt" gehalten werden, etc. - die Bandbreite an negativen Reaktionen ist groß. Das Ventil kann nicht geöffnet werden, die Situation nicht entschärft, der Ballon wird immer größer und darf trotzdem nicht platzen. 

Zum Glück treten solche Situationen bei mir nur noch sehr, sehr selten auf und auch hier ist mein Alltag nicht (mehr) davon betroffen. Es gab eine Zeit, da führten meine Angststörungen dazu, dass ich nicht mehr einkaufen gehen konnte. An der Kasse stehen war für mich unmöglich. Beim Bäcker meine Brötchen bestellen: Ging nicht. Die irrationale Angst vor den Blicken der anderen und ihren Reaktionen, wenn ich bestelle oder bezahle, war unvermeidbar. So unverständlich das auch angesichts dessen, dass einem da ja nun nicht wirklich viel passieren und es keine Gründe für negative Reaktionen geben kann, sein mag: Für mich war es die Hölle.

Was mir hingegen noch immer zu schaffen macht: Ich leide unter einer ständigen inneren Unruhe und Hektik. Ich habe Angst davor Dinge nicht (pünktlich) zu schaffen, die Kontrolle zu verlieren, auf Situationen zu treffen, auf die ich nicht gut vorbereitet bin. Ich habe Angst zu spät zu kommen, selbst wenn die Folgen noch so unbedeutend sind. Das Feld ist im Grunde noch größer. Dazu gehören auch Situationen, die mein direktes FCSP-Umfeld betreffen.

Und ja klar: Ich denke direkt wieder "das ist jammern auf sehr hohem Niveau". Solche/meine Probleme sind doch im Vergleich zum Großteil der Welt und seiner Gesamtscheiße nichts! Sowas zu Tastatur zu bringen, ausgerechnet von mir X-fach privilegiertem Mensch, ist doch anmaßend angesichts all der marginalisierten Menschen, all dem Elend und all der ganzen Scheiße, die da draußen passiert. Aber es ist nun mal meine Lebenswelt, mein Mikrokosmos und es sind meine ganz persönlichen Baustellen, unter denen andere genauso leiden wie ich. "Die größeren Probleme" gibt es in Relation fast immer und sie werden dadurch weder kleiner noch größer, unser Umgang mit ihnen nicht anders und unsere Zeit dafür nicht weniger.

Und trotzdem denke ich: "Übertreibe ich nicht vielleicht doch?" Aber wenn ich mir den ganzen Kram, der mich persönlich betrifft, hier vor der Veröffentlichung zum 27. Mal durchlese, dann denke ich am Ende doch wieder: "Nee, scheiße, es ist tatsächlich so."

Vielleicht bilden gerade unsere Privilegien die Basis für eine möglichst umfassende Rücksichtnahme, in der Welt da draußen genauso wie im Mikrokosmos. Am Ende ist es auch immer eine Frage, wen ich womit konfrontiere, wer Adressat:in ist: Ob ich einem Hunger leidenden Menschen mit Veganismus komme oder euch von der Ernsthaftigkeit und Vielfältigkeit von Phobien erzähle, ist nun mal ein großer Unterschied.

Zurück zum Thema. Vielen Menschen fällt es schwer, bei gewissen Themenfeldern und Situationen überhaupt nachvollziehen zu können, dass diese durchaus mit Ängsten einhergehen können. Doch für Betroffene sind diese mit großem Leidensdruck verbunden, häufig in zweifacher Hinsicht: Zum einen die irrationale Angst selber, die einen nahezu ständigen Druck erzeugen kann. Aber (je nach Feld) eben auch, andere da mit reinzuziehen und zu belasten.

Um es an einem Beispiel noch konkreter zu machen und dabei den FCSP-Bezug herzustellen, greife ich mir aus meiner persönlichen Liste mal einen Aspekt heraus:

Die irrationale Angst zu spät zu kommen.

Eine Anreise in der Gruppe bedeutet immer, dass andere dadurch von mir "genötigt" werden, ebenfalls deutlich früher aufzubrechen um letztendlich am Ziel unnötig viel Leerlauf zu haben. Das triggert und beschämt mich natürlich zusätzlich, da ich diese Personen da gar nicht mit reinziehen will. Doch die Angst vor dem Zuspätkommen ist größer. Es scheint unmöglich für mich, diesem Zwang nicht nachzugeben. Und so muss ich so lange intervenieren, bis alle Zähneknirschend der frühen Abreise zustimmen. Versuche ich stattdessen es auszuhalten, so wird der Druck teils unerträglich. Je weiter die Uhr runtertickt, umso angespannter werde ich. Wo ich mich vorher auf den Tag gefreut habe, steht stattdesen nur noch Frust. Und je mehr ich mich auf das Ereignis freue, umso größer ist der Druck. So irrational die Angst und so unwahrscheinlich es ist, dass all die Verzögerungen, die teilweise nur in meinem eigenen Kopf einen Platz haben, eintreten. Remember die Angst vor dem Brötchenkauf: Es ist nicht rational.

Dass dieses von anderen nicht immer als Phobie mit entsprechendem Leidensdruck gesehen wird, ist verständlich. Und selbst wenn, ist es nachvollziehbar, dass mein Umfeld davon genervt ist. Dass teilweise auch mit Belustigung reagiert wird, was mich zusätzlich triggert, habe ich mir selber zuzuschreiben: Ich bin ein "Meister" darin, mich über mein eigenes Verhalten gegenüber anderen zu belustigen, um die Angriffsfläche möglichst gering zu halten. Am angreifbarsten ist mensch immer, wenn er die eigenen auf andere negativ wirkendenden Verhaltensmuster abstreitet oder versucht Gründe zu finden, die für andere kaum greifbar sind. Belustige ich mich selber darüber, denke ich, dass ich nicht mehr so angreifbar bin. Doch da, wo ich über mich selber lache, lastet in Wirklichkeit ein Leidensdruck auf mir, den ich versuche zu kaschieren und selbst mir selber gegenüber zu relativieren. Das kann natürlich nicht funktionieren und in Wirklichkeit sind jeder Spruch und jede Belustigung Trigger für mich, die mich lange zusätzlich beschäftigen. Offenheit ist schwierig, erst recht in akuten Situationen. Wirklich offen gehe ich im Grunde nur jetzt damit um, indem ich über meine tatsächliche Gefühlslage in solchen Situationen schreibe.

Verstärkend hinzu kommt, dass solche Phobien nicht nur akute Auswirkungen haben. Sie beschäftigen einen häufig weit über situationsbedingte Auslöser hinaus und ich nehme vieles mit in die Nacht. Sowohl nach, als auch vor bestimmten Ereignissen oder eben auch generell. Und dann kommt der Rattenschwanz: Kopfkino, Schlafstörungen, die - auch ohne aktuellen Bezug - zur Gewohnheit werden, daraus folgend wiederum körperliche Beschwerden und so weiter. Alles kein Spaß.

Was ist die Lösung? Noch ne Therapie? Will ich das überhaupt? Gibt es keine Strategien? Haben Teile davon nicht vielleicht sogar manchmal was Gutes?

Beim Pokalspiel gegen Düsseldorf ist es mir tatsächlich einmal gelungen, dieser Phobie stand zu halten. Ich hing bis 90 Minuten vor Anstoß mit ein paar GAS-Leuten im Tiefgang ab, war - ungewohnt für mich - erst 80 Minuten vor Anstoß am Stadion. Und die Schlangen vor der Gegengerade waren unfassbar lang. Ich war 5 Minuten vor Anstoß drin, zum Glück mit Sitzplatzticket, aber der Trigger war groß genug, um mich auch noch zu bestätigen, dass meine Angst berechtigt ist. Die 75 Minuten am Einlass gefühlte Stunden. Und so habe ich mal wieder ein Argument, das ich immer vorbringen kann, wenn ich nicht zugeben will oder kann, dass meine Angststörung viel tiefer liegt und die Ängste meist irrational sind. Selbst wenn die Folgen einer tatsächlichen Verspätung überschaubar gewesen wären (ein paar Minuten zu verpassen) und ich das genau weiß, ist es mir nicht möglich, diese rationale Realität zu berücksichtigen.

Ob die Reaktionen auf meine Zeilen belustigend, abweisend oder whatever sind, ist mir natürlich nicht egal. Viel wichtiger ist aber für mich, dass ich mir damit (hoffentlich) ein wenig Druck vom Kessel nehme.

Ja, im Grunde ging es hier von Anfang an um mich. Naja, sagen wir lieber so: Mein persönliches Erleben war zumindest Auslöser für diese Zeilen. Mir ist natürlich - abseits meiner eigenen Situation - schon wichtig, die Aufmerksamkeit auf die Allgemeinheit zu legen: Abweichende, nicht nachvollziehbare oder irrationale Verhaltensweisen haben nicht selten mit individuellem Leidensdruck zu tun, so unwahrscheinlich das auf dem ersten Blick auch sein mag. May be, dass es als betroffene Person leichter ist, die Antennen auszurichten. Wie oft erlebe ich Situationen, wo irgendwer über irgendwen lacht und ich dazu keinen Anlass sehe.

In Bezug auf den FCSP und unseren Fanclub gibt es ja tatsächlich eine nahe liegende Lösung: Getrennte Anreisen. Ich will/kann mich dieser Phobie - Stand heute - nicht stellen. Mir fehlt innerhalb meiner kompletten Lebensrealität mit ihren Baustellen schlichtweg die Kraft dazu. Mal eben so abstellen ist nicht möglich, so irrational manche Ängste auch sind. Und häufig will mensch das auch gar nicht, da der eigene Umgang damit längst erlernt ist und die (vermeintlich) negativen Begleiterscheinungen (hier: irgendwo viel zu früh ankommen) deutlich erträglicher sind, als die Ängste zuvor. Und das ist jetzt der Teil, der all das ein klein wenig relativiert: Es gibt oft Strategien, um Phobien zu umgehen. Nur müssen diese auch angewendet werden, was nur geht, wenn dem nichts im Weg steht:

Ich habe gar kein Problem damit, bei (mir) wichtigen Ereignissen und Terminen lange Zeit vorher irgendwo (alleine) abzuhängen und praktiziere das in anderen Situationen auch häufig so. Stattdessen bin ich froh, dass der Druck abnimmt oder ich ihn erst gar nicht aufgebaut habe: Ziel erreicht, abhängen, reingehen, alles gut.

Mein Hauptleidensdruck ist bei diesem Thema also im Regelfall gar nicht (mehr) die Phobie selber, sondern dass ich damit andere Leute, die ich auch noch sehr mag, nerve. Ich selber bin mit vielen meiner Phobien im Grunde im reinen, da ich viele davon mit Strategien bewältigen kann und vieles ist im Laufe der Jahre schon viel besser geworden (auch dank professioneller Hilfe, zu der ich jeder Person mit Ängsten oder sonstigen tief sitzenden Problemen nur raten kann). Nur wenn andere mit drinhängen, wird es für mich problematisch: Dass diese wegen mir Dinge machen, die sie gar nicht wollen. Dass ich ihre Stimmung runter ziehe und das - um beim FCSP und unserem FC zu bleiben - teilweise schon Wochen vor dem Spiel: Vor Schalke away (ÖPNV-Streik) und am Spieltag selber waren alle nur noch angenervt wegen mir - verständlich! - und mein innerer Druck war auf einem absoluten Höhepunkt, so sehr ich auch versuchte ihn zu kaschieren.

Dabei ist die Lösung doch so leicht: Meinen Druck zu senken, indem ich mein Umfeld nicht mehr trigger. Und das geht 2024/25 (hoffentlich) so:

Ich reise individuell an. Mir macht das überhaupt nichts aus, es nimmt mir schlichtweg den Druck, so dass ich so Tage dann auch so weit wie möglich genießen kann. Ich warte auf euch im Block und wahrscheinlich ist es sogar so, dass wenn ihr reinkommt, wir fast überall noch genug Platz haben. Selbst wenn ihr Verständnis für meine Situation habt, weiß ich doch, dass ihr es gerne anders hättet und würde mir die ganze Zeit - bei gemeinsamer Anreise - darüber Gedanken machen und mich "schuldig" fühlen. Käme dann auch noch ein unüberlegter Spruch, wäre der Tag für mich gelaufen. Wenn mein auserwählter Away-Steher dann nicht ok für euch ist, stellen wir uns dahin, wo ihr stehen möchtet. Wenn dann da noch Platz ist. Ich weiß, dass da noch Platz ist. Und ich wusste damals auch, dass beim Brötchenkauf nix passieren kann. Aber!

Fazit:

Phobien sind nicht lustig! Manche davon sind für viele schwer nachzuvollziehen und sie sind dennoch mit einem hohen Leidensdruck verbunden. Und - by the way - sie sollten nicht mit Feindseligkeiten verwechselt werden. Stichworte "Homophobie", "Transphobie": Begriffe, die häufig nicht passen, weil es keine Ängste sind, sondern Feindseligkeiten. Das alles in die Phobie-Schublade zu stecken, würde den wirklich unter Angststörungen leidenden Menschen nicht gerecht werden.

Schlusswort:

Hey, Bundesliga! Jetzt fragst du dich sicher, wer ich bin. Ich bin der Typ, der als erstes im Stadion ist. Böse Zungen behaupten, weil ich nur darauf warte, dass Jackson mir beim frühen Rasencheck zuzwinkert. Jetzt weißt du es besser. Wir sehen uns!