Keine Angst, ich bohre nicht in offene Wunden. Zumindest nicht in meinen.

Es ist Sonntagabend nach dem Stuttgart-Spiel und es benötigte die SMS (ja, ernsthaft) eines lieben Menschen, der sich ebenfalls im Stadion befand, um die Emotionen ein Stück abzuschütteln, zu reflektieren und die sich durchgesetzte Ambiguitätstoleranz* in ihre Schranken zu verweisen. Das klingt direkt wieder so scheiße abgehoben, aber für mich braucht das Kind manchmal einen Namen, um mich damit auseinander setzen zu können. Und das war nach dem, was da in der Summe an dem Tag so auf (natürlich nicht nur) mich einprasselte, für mich persönlich zwingend notwendig. 

Das Wort kannte ich bis zu R.'s damaligem Artikel selber noch nicht, doch war genau dieser jetzt rückwirkend nochmal ein Stück Hilfestellung für mich, um das, was da nicht nur auf dem Feld, sondern eben teilweise auch auf den Rängen abging,  aufzuarbeiten.

*Kurz umschrieben:

"Als ambigue werden Situationen verstanden, die durch Mehrdeutigkeit, Ungewissheit, Neuartigkeit, hoher Komplexität und / oder Widersprüchlichkeit gekennzeichnet sind. (...) Demgegenüber wäre Ambiguitätstoleranz die Anerkennung und das Aushalten von (...) Ambiguität."
Quelle: bap

Oder auf den ganzen Fußballkram heruntergebrochen, so wie ich das interpretiere: Auf der einen Seite Fußball, Fankultur, das Stadionerlebnis und was noch so dazu gehört zu "lieben", auf der anderen Seite aber eben auch so einiges daran scheiße zu finden. Das in Einklang zu bringen ist die große Herausforderung: Ambiguitätstoleranz. Die Frage ist nur wie.

"Blind vor Wut" wäre für mich persönlich sicher übertrieben, da ich es immerhin schaffe meinen Unmut im Stadion in persönliche Grenzen zu halten. Im Grunde siegt bei mir sogar häufig die Fassungslosigkeit, so dass ich viele Situationen gegen Stuttgart nach einem ersten Aufschrei nur noch mit kopfschüttelndem Staunen quittieren konnte. Und ich würde das, was ich da fühle, trotzdem als extreme Emotionen einordnen. Die bitte schön jede Person im Stadion so ausleben mag, wie sie möchte und ich bin ganz weit davon entfernt, das irgendwem abzusprechen. Aber.

Jaja, ich weiß: Das ist Fußball, da hat der Hippiescheiß nix verloren. (Ich sag ja: Ambiguitätstoleranz und aus der Sicht (!) betrachtet finden viele meiner Freund*innen Fußball wohl auch nicht ganz zu unrecht scheiße.) Doch dabei ist es ja genau das: Fußball. Besser gesagt ist es sogar nur Fußball. Bei aller Liebe.

Da stellt sich dann die Frage, ob in einem doch sehr progressiven Umfeld, welches sich so positiv von vielen anderen abhebt, die Grenze zwischen lautstarkem Protest (Pfiffe etc., was ich persönlich für absolut legitim halte) und offensichtlichem Hass (so manche Äußerungen, Becherwürfe) nicht doch eine ist, die gegen Stuttgart quantitativ und qualitativ gerissen wurde. Bei den Becherwürfen sollte ja fast Konsens bestehen (auch wenn es kaum so aussah), aber am Samstag ging es nicht nur für mich über diese Frage hinaus.

Und auch wenn ich selber weit davon entfernt bin, dieses Limit zu reißen, hilft mir das bei der persönlichen Einordung, was für mich am Ende nach diesem Spiel stehen bleibt: Offene Wunden sind es jedenfalls nicht. 

Am Ende des Tages muss das jede*r für sich selber einordnen (oder es halt lassen) und das ist auch dieses mal kein moralischer Zeige-, noch ein Mittelfinger, als viel mehr im besten Fall ein Denkanstoß, mit dem Ihr machen könnt, was Ihr wollt. Und ich kann inzwischen auch nachvollziehen, dass der Großteil überhaupt keine Notwendigkeit sieht, sich solche Gedanken zu machen und das bestenfalls mit einem gelangweilten Arschrunzeln quittiert. Auch hier ist das Thema vermutlich die jetzt schon mehrfach thematisierte Hochsensibilität. Noch immer mehr Fluch, als Segen?

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Auf der Süd ist ein Fan an dem Tag gestürzt und ich weiß nicht viel, außer dass es nicht glimpflich war. Wir wünschen von Herzen gute Besserung und baldige umfassende Genesung! (das steht hier nicht, um es instrumentalisieren zu wollen, daher ganz bewusst auch abgetrennt)